Analyse Der Papst wird evangelisch

Rom · In seinen Sätzen zur Abendmahlsgemeinschaft und zur Sexualmoral lässt Franziskus einen neuen Blick auf das Verhältnis von Gewissen und Lehre erkennen. Das kannte man bisher vor allem von den Protestanten.

Papst Franziskus eröffnet Heiliges Jahr
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Papst Franziskus eröffnet das Heilige Jahr

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Foto: afp, mlm

Er hätte sich keinen passenderen Ort aussuchen können. Ausgerechnet vor der lutherischen Gemeinde in Rom sagte Papst Franziskus diese Sätze. Die 74-jährige Protestantin Anke de Bernardinis, verheiratet mit einem katholischen Italiener, sagte dem Pontifex, es schmerze sie sehr, "dass wir am Abendmahl des Herrn nicht gemeinsam teilnehmen können". Das Kirchenrecht ist in der Tat klipp und klar: "Katholische Spender spenden die Sakramente erlaubt nur katholischen Gläubigen."

Der Papst antwortete mit einer Frage: "Haben wir nicht die gleiche Taufe? Und wenn wir die gleiche Taufe haben, müssen wir gemeinsam gehen." Und dann, gegen Ende seiner Replik: "Das Leben ist größer als Erklärungen und Deutungen. Von daher zieht die Schlussfolgerungen. Ich werde nie wagen, Erlaubnis zu geben, dies zu tun, denn es ist nicht meine Kompetenz. Eine Taufe, ein Herr, ein Glaube. Sprecht mit dem Herrn und geht voran." Schlusswort: "Ich wage nicht mehr zu sagen."

Abgesehen davon, dass es natürlich in seiner Kompetenz läge: Seither fragen sich Experten quer über den Globus besorgt oder hoffnungsvoll, ob Franziskus zur Interkommunion, also zur Teilnahme nichtkatholischer Christen an der Eucharistie aufgefordert hat. Hat er nicht. Nicht direkt. Dazu ermutigt hat er allerdings eindeutig. Seine Sätze sind das bisher deutlichste Beispiel für den neuen Ton im Vatikan, seit Jorge Mario Bergoglio am 13. März 2013 als frischgewählter Papst die Massen schlicht mit "Guten Abend" begrüßte. Den neuen Ton kennt man eher von Protestanten: die Betonung der Gewissensentscheidung gegenüber der Lehre.

Franziskus hat sich 2013 ähnlich zum Umgang mit Homosexuellen geäußert: "Wenn jemand schwul ist und mit gutem Willen den Herrn sucht - wer bin ich, ihn zu verurteilen?" Das hebt sich deutlich ab von der seltsamen Warnung des Katechismus, Katholiken dürften Homosexuelle nicht "ungerecht zurücksetzen" (was die Frage impliziert, wie gerechte Zurücksetzung aussieht) und sollten ihnen mit "Mitleid und Takt" begegnen. Neu klingt auch das Abschlussdokument der Familiensynode vom Oktober, der bisher wichtigsten theologischen Veranstaltung dieses Pontifikats. Es verweist im Abschnitt "Wahrheit und Schönheit der Familie" unter anderem auf Franziskus' erstes Lehrschreiben "Evangelii Gaudium" und fordert: "Daher sind, während die Lehre klar zum Ausdruck gebracht wird, Urteile zu vermeiden, welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen."

Weder mit den Sätzen zum gemeinsamen Abendmahl noch mit denen zur Homosexualität hat Franziskus die Kirchenlehre über den Haufen geworfen. Aber auch bei Päpsten macht der Ton die Musik. Benedikt XVI. verwies immer wieder auf Unmöglichkeiten. Interkommunion stehe am Ende, nicht am Anfang des Prozesses, sagte 2012 der Präsident des päpstlichen Ökumenerats, der Schweizer Kardinal Kurt Koch.

Worte wie die von Franziskus von Benedikt bei seinem Besuch 2011 im Erfurter Augustinerkloster, wo Luther Mönch war? Undenkbar. Glaube sei keine Verhandlungssache, Gastgeschenke habe er nicht dabei, beschied Benedikt damals schroff seine Zuhörer.

Der jetzige Papst klingt da eher wie der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, der 2012 über Sterbehilfe sagte: "Wenn ein Mensch intensiv darum bittet, dann mache ich mir nach der reinen Lehre auch die Hände schmutzig." Da ist der Konflikt zwischen Theologie und Seelsorge schon eingepreist. Bei Franziskus heißt das jetzt: "Das Leben ist größer als Erklärungen und Deutungen. Von daher zieht die Schlussfolgerungen."

Darin steckt ganz offensichtlich die Erkenntnis, dass die Abrechnung zwischen Gewissensurteil und Lehre nicht immer glatt aufgeht - keine katholische Selbstverständlichkeit. Man muss wohl bis auf den Katechismus zurückgehen, um die Tragweite zu verstehen. Dort heißt es zum Gewissensurteil: "Es bezeugt die Wahrheit im Hinblick auf das höchste Gut, auf Gott. Wenn er auf das Gewissen hört, kann der kluge Mensch die Stimme Gottes vernehmen, die darin spricht." Und es wird Kardinal John Henry Newman zitiert: "Das Gewissen ist der ursprüngliche Statthalter Christi." Von einem möglichen Widerspruch mit kirchlicher Morallehre, den "Erklärungen und Deutungen", ist nicht die Rede. Kein Wunder, dass konservative US-Theologen vor der Familiensynode warnten, es drohe die Konstruktion eines Konflikts zwischen Gewissen und Norm, der "die Gläubigen verwirren" könne.

Was Franziskus sagt, ist noch längst nicht reiner Luther - aber es erinnert an ihn. Gegen das Gewissen zu handeln, sei "weder sicher noch geraten", sagte Luther 1521 in Worms Kaiser Karl V. ins Gesicht: "Mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort." Soll heißen: Zwar enthebt auch die fehlbare Gewissensentscheidung nicht des Ringens um Schuld und Gnade - aufgehoben ist dieser Konflikt aber in Gottes Zusage, den Sünder zu rechtfertigen, und eben nicht in ausgefeiltem Normenwerk. Der Moraltheologe Konrad Hilpert hat die klassisch-katholische Tendenz so zugespitzt: "Dem Gewissen bleibt nur noch die Aufgabe, geplantes beziehungsweise erfolgtes Handeln den vorgegebenen Normen zu subsumieren." Gewissen folgt Dogma - diese Spielart kirchlicher Autorität hat sich allerdings bei vielen Katholiken längst verflüchtigt.

Franziskus ist nicht eindeutig - kein "Ja, ja" oder "Nein, nein", wie die Bibel empfiehlt. Zwei Wochen nach dem Besuch bei den Lutheranern war der Papst in Afrika. Ob es nicht Zeit sei, im Kampf gegen Aids Kondome zu erlauben, wurde er gefragt. Wieder kam eine Abwägung. Diesmal zwischen Verteidigung bestehenden Lebens und Offenheit für neues Leben - "entweder das fünfte Gebot oder das sechste". Nicht töten also (durch Verbreitung von HIV, also durch Sex ohne Kondom) oder nicht ehebrechen (unter diesem Punkt behandelt der Katechismus auch Empfängnisverhütung). Mit Einzelregeln wolle er sich nicht beschäftigen, sagte der Papst.

Stattdessen zitierte er sinngemäß Jesus, der mit den Pharisäern über die Einhaltung des Sabbats stritt: "Macht Gerechtigkeit, und wenn alle geheilt sind und es keine Ungerechtigkeiten mehr gibt, können wir über den Sabbat reden." Immer wieder also: erst das Leben, dann die Lehre. "Ich wage nicht mehr zu sagen", hatte Franziskus noch den Lutheranern in Rom gestanden. Alles in allem sagt er schon ziemlich viel.

(fvo)
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