"Vatileaks" hält Rom in Atem Der Vatikan sucht den "Raben"

Wer steckt hinter der Intrige gegen den Papst? Tarcisio Bertone, nach Benedikt mächtigster Mann im Vatikan, beklagt "organisierte" und "zerfleischende" Angriffe auf seinen Dienstherrn. Er muss davon ausgehen, dass noch weitere brisante Dokumente an die Öffentlichkeit gelangen.

Die wichtigsten Figuren im Vatileaks-Skandal
7 Bilder

Die wichtigsten Figuren im Vatileaks-Skandal

7 Bilder

Dem Vatikan entgleiten die Dinge. Am Wochenende tauchten erneut vertrauliche Dokumente in der Öffentlichkeit auf. Dabei vermutete man die Quelle der Affäre doch ursprünglich beim Kammerdiener, der vor zwei Wochen verhaftet wurde.

Stattdessen dauern die Indiskretionen an. Die Zeitung "La Repubblica" druckte am Sonntag drei weitere Dokumente ab — zwei Briefe von Papst-Sekretär Georg Gänswein und ein Schreiben von Kurienkardinal Raymond Leo Burke. Zudem veröffentlichte das Blatt ein Schreiben eines angeblichen Maulwurfs, in dem es heißt, Paolo Gabriele, der verhaftete Butler der Papstes, sei nicht mehr als ein Sündenbock. Der Quelle nach gibt es Hunderte weitere Dokumente.

Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone verurteilte die Veröffentlichungen am Montag in einem Fernseh-Interview als "grausame" und "organisierte" Angriffe. Der Papst lasse sich aber von keiner Art von Angriffen einschüchtern. Vielmehr schweiße der Angriff die Führung im Vatikan enger zusammen.

Alles begann mit einem Enthüllungsbuch

Bertone, der in der Hierarchie des Vatikans die Nummer zwei hinter dem Papst ist, steht wegen seines Führungsstils selbst in der Kritik. Viele Beobachter sehen in ihm das eigentliche Ziel der Veröffentlichungen. Sie könnten ein Versuch sein, ihn zum Rücktritt zu zwingen.

Wer hinter den Indiskretionen steckt, bleibt das große Rätsel im Kirchenstaat. Fest steht nur: Der "Vatileaks"-Skandal steht für eine der größten Sicherheitslücken in der Geschichte des Vatikans. Er begann mit dem Enthüllungsbuch des investigativen Journalisten Gianluigi Nuzzi. Dutzende Briefe, Notizen und andere Dokumente vom Schreibtisch des Papstes sind in dem Buch "Seine Heiligkeit" abgedruckt.

Angesichts der neuen Veröffentlichungen hat sich der Vatikan längst darauf eingestellt, dass es noch mehr undichte Stellen im Kirchenstaat geben könnte. Vatikansprecher Federico Lombardi räumte am Sonntag ein, man müsse in nächster Zeit mit weiteren Enthüllungen rechnen. Im Kammerdiener sehen die Kardinäle zunehemend nur einen von vielen in einer Schar "stehlender Raben".

Die Tatsache, dass es nach der Verhaftung des Kammerherrn am 23. Mai noch weitere Veröffentlichungen gegeben hat, sind jedoch kein Beweis, dass Gabriele nicht der einzige "Rabe" sein kann. Eines der Schreiben Gänsweins in der "Repubblica" trägt das Datum vom 19. Februar 2009; das andere ist undatiert. Die Stellungnahme von Kardinal Burke stammt vom Januar. Auch diese Texte könnten theoretisch von Gabriele entwendet worden sein. Ohnehin dürften der Journalist Gianluigi Nuzzi, der mit der Publikation zahlreicher Geheimdokumente in seinem Buch "Sua Santita" eine Bombe platzen ließ, und seine Informanten nicht schon ihr ganzes Pulver verschossen haben.

Mitarbeiter stehen geschlossen hinter Papst

Die bislang an die Öffentlichkeit gelangten Vatikan-Dokumente — darunter ein in Deutsch verfasstes Schreiben von Benedikts persönlichem Sekretär über ein Treffen mit einem Mitglied der in Ungnade gefallenen Ordensgemeinschaft Legionäre Christi — deuteten auf politische Machtkämpfe und Intrigen innerhalb des Vatikans hin und enthielten Korruptionsvorwürfe, die Kardinäle berührten.

Trotz des Skandals stünden die Mitarbeiter des Papsts geschlossen hinter diesem, sagte Bertone in dem Interview am Montag. Es habe schon immer Angriffe gegen die Kirche gegeben. Diesmal seien sie aber heftiger und würden mehr Uneinigkeit schaffen. Zudem seien sie organisierter, sagte der Kardinalstaatssekretär. Die Menschen im Umfeld des Papstes fühlten sich durch dessen "große moralische Kraft" gestärkt.

Die Ermittler hoffen nun mit Hilfe von Benedikts Kammerdiener auf mehr Licht im Dunkel. Paolo Gabriele ist nun erstmals befragt worden. Einzelheiten dazu gab es aber nicht. Angeblich will Gabriele kooperieren. Seine beiden Anwälte haben sich Zeit genommen, das Material zu sichten: die Vorermittlungen von Staatsanwalt Nicola Picardi und Protokolle der Gendarmerie, die in der Wohnung des Butlers offenbar stapelweise päpstliche Geheimdokumente gefunden hat. Parallel dazu setzt die Kommission aus drei Kardinälen, die die Affäre aufklären sollen, ihre Sondierungen fort.

In den Spekulationen italienischer Medien tritt derzeit die Theorie von der großen Verschwörung, die durch höchste Würdenträger orchestriert sein könnte, etwas zurück. Der Papst hat seinen engsten Mitarbeitern öffentlich sein Vertrauen bekundet. In Mailand demonstrierte Benedikt XVI. optisch den Schulterschluss mit seinem Kardinalssekretär Tarcisio Bertone und dieser mit Gänswein.

Die Frage nach dem Initiator

Falls es sich also nicht um eine Kampagne alter Seilschaften oder neuer Bünde im Vatikan gegen den Papst oder seine engsten Mitarbeiter handelt, bliebe die These von lose zusammenarbeitenden "Gesinnungstätern" — Angestellte aus Kurienbüros, die sich aus unterschiedlichen Motiven zu dieser Aktion entschlossen und in Gabriele einen Verbündeten mit besten Verbindungen gefunden hätten. Allerdings bliebe die Frage nach einem Initiator. Auch ist weiter unklar, ob Geld oder irgendwelche Verpflichtungen eine Rolle spielten.

Auffallenderweise nimmt das Schreiben, das den drei jüngsten Dokumenten der "Repubblica" beigefügt war, neben Bertone auch Gänswein ins Visier. Schon zuvor hatten Medien gemutmaßt, der in letzter Zeit gewachsene Einfluss des Privatsekretärs von Benedikt XVI. stoße an der Kurie nicht nur auf Begeisterung.

Offen ist, ob der Vatikan Italien um Rechtshilfe bittet und wie diese aussehen könnte. So oder so würden, wenn es zu einem juristischen Vorgehen gegen den Journalisten Nuzzi und mögliche Helfer käme, italienische Rechtsnormen angewendet: Der Vatikan hat das italienische Strafrecht von 1929 mit kleinen Modifizierungen für sich übernommen. Das heutige italienische Strafrecht sieht in Artikel 625 für schweren Diebstahl Haft von einem bis sechs Jahren vor.

(pst)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort