Antisemitismus Die Angst treibt Frankreichs Juden nach Israel

Paris · Die antisemitische Gewalt hat massiv zugenommen. Mehr als 5500 Franzosen jüdischen Glaubens werden deshalb in diesem Jahr auswandern - ein trauriger Rekord. Einer davon ist Simon, der sich eine bessere Zukunft für seine Familie erhofft.

Antisemitismus: Die Angst treibt Frankreichs Juden nach Israel
Foto: dpa, Sebastian Kahnert

Haus, Auto, Möbel - alles hat Simon verkauft. Der 40-Jährige aus Sarcelles bei Paris wandert in den nächsten Tagen mit seiner Frau und seinen drei Kindern aus - so wie mehr als 5500 andere französische Juden dieses Jahr. "Es zerreißt mir das Herz", sagt er über den bevorstehenden Abschied, bei dem er seine Mutter zurücklässt. Doch der Familienvater versteht die Auswanderung nach Israel, hebräisch "Aliyah" genannt, als Opfer, das er für seine Kinder bringt: "Ich will mir keine Sorgen machen müssen, wenn mein Sohn in die Schule geht."

Die Zahl antisemitischer Gewalttaten hat in Frankreich in den ersten sieben Monaten des Jahres dramatisch zugenommen. 527 zählte der Dienst zum Schutz der Jüdischen Gemeinde bis Ende Juli - ein Anstieg um 91 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

"Wir stellen mehr gezielte Angriffe auf Synagogen, gegen jüdische Läden und in bestimmten Vierteln fest", bemerkt der Vorsitzende des Zentralrats jüdischer Einrichtungen in Frankreich (CRIF), Roger Cukierman. Sogar in der Rue des Rosiers, der berühmten Straße im Pariser Touristenviertel Marais, wurde im Juli nach einer pro-palästinensischen Demonstration ein koscheres Restaurant angegriffen.

Simon kennt die jüngsten Fälle judenfeindlicher Ausschreitungen gut. Seine Heimatstadt Sarcelles war einmal für ihr harmonisches Zusammenleben von Muslimen, Juden und Christen bekannt. Doch im Sommer wurden nach einer pro-palästinensischen Demonstration jüdische Geschäfte angezündet, eine Apotheke brannte aus.

Der bislang schlimmste antisemitische Zwischenfall in Frankreich ereignete sich im März 2012: Ein später getöteter Islamist griff die jüdische Gesamtschule "Ozar Hatorah" in Toulouse an. Vier Menschen starben im Kugelhagel: die zehnjährige Tochter des Schuldirektors, ein Lehrer und seine beiden Kinder - das jüngste war erst drei Jahre alt. Weitere Schüler wurden teils schwer verletzt. Im benachbarten Belgien versetzte Ende Mai ein Terroranschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel mit vier Toten nicht nur die dortige jüdische Gemeinde in Schrecken, sondern auch die in Frankreich.

Es sind Verbrechen, die punktuell besonders Angst machen. Aber zermürbender ist der Alltag: Antisemitische Parolen, wie sie der umstrittene Satiriker und Hetzer Dieudonné auf der Bühne verbreitet, und der Ruf "Tod den Juden". "Jeder hat seine Grenzen. Meine sind jetzt erreicht", sagt Simon, der seinen Job als Führungskraft in einem großen Unternehmen aufgab. Im israelischen Netanya, 30 Kilometer nördlich von Tel Aviv, fängt er als einfacher Angestellter in einem Elektrobetrieb neu an. "Durch den israelisch-palästinensischen Konflikt ist es dort gefährlicher, aber wir sind besser geschützt."

Seine Frau nahm Mitte September Abschied von der Apotheke, in der sie arbeitete: "Sie weint die ganze Nacht, weil sie ihre Freunde zurücklassen muss." Außerdem spricht die 37-Jährige kein Hebräisch. Auch die Kinder im Alter von acht, zehn und 13 Jahren müssen noch einmal von vorne anfangen. Ein ganzes Jahr lernen sie in gesonderten Kursen Hebräisch, bevor sie dann ins israelische Schulsystem eingegliedert werden.

Die mehr als 5500 französischen Juden, die in diesem Jahr Frankreich verlassen, davon 4500 nach Israel, machen ein Prozent der jüdischen Gemeinde aus. "Das sind Zahlen, die noch nicht dramatisch sind", relativiert CRIF-Präsident Cukierman. Er macht das antisemitische Klima ebenso für die Entwicklung verantwortlich wie den Erfolg des rechtspopulistischen Front National, der bei der Europawahl im Mai stärkste Partei wurde. Doch Cukierman sieht auch die Wirtschaftskrise als Grund: "Es gibt auch viele nicht-jüdische Franzosen, die emigrieren - nach England oder in die USA."

Andere französische Juden sehen das ähnlich. Ein Familienvater, der noch nie über eine Auswanderung nach Israel nachdachte, merkt an: "Nur eine kleine Minderheit der jüdischen Gemeinde ist Ziel von Angriffen geworden. Man darf das nicht überbewerten. Es ist hier nicht die Reichspogromnacht."

Der jüdische Philosoph Bernard-Henri Lévy ruft die französischen Juden ganz offen zum Bleiben auf. "Ich glaube nicht, dass man so verzweifelt sein sollte, dass man die Koffer packt", schreibt er in der Zeitschrift "La Règle du Jeu". Stattdessen appelliert er an die Juden, sich der Auseinandersetzung mit den Extremisten von links und rechts zu stellen: "Ich kann mir nicht vorstellen, das Schlachtfeld zu verlassen, auf dem nach meiner tiefsten Überzeugung die Werte der Republik schließlich siegen werden."

(RP)
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