Flüchtlinge auf dem Mittelmeer Ein neuer Grad der Grausamkeit

Rom/Düsseldorf · Innerhalb weniger Tage rettete die italienische Küstenwache mehr als 1000 Flüchtlinge, die auf Frachtern ohne Mannschaft das Gebiet der Europäischen Union erreichen wollten. Die Vereinten Nationen sprechen von einer neuen Taktik der Schleuserbanden.

Flüchtlings-Frachter "Ezadeen" erreicht Hafen
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Flüchtlings-Frachter "Ezadeen" erreicht Hafen

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Diese Schiffe sind Transporter der Angst: Männer, Frauen und Kinder füllen sie - gestern, heute und wahrscheinlich auch morgen wieder. Alle hoffen, dass sie in den nächsten Stunden noch leben werden, doch sicher sein können sie nicht. Ihr Schiff tanzt wie ein weggeworfener Korken auf den Wellen des Mittelmeers.

Diese Menschen haben die Vision von einem besseren Leben in Sicherheit und Freiheit gehabt, doch sie spüren die Allgegenwart ihrer Lebensbedrohung. Sie wissen: Die meisten kommen irgendwie und irgendwo an Land und müssen dann in überfüllte Auffanglager. Sie verdrängen, dass andere Visionäre vom gesicherten Leben in Europa vor ihnen zu Tausenden ertrunken sind, viele wurden nie gefunden.

Auch am Freitag trieb wieder ein führerloses Handelsschiff in rauer See auf die Küste Italiens zu. Auf der "Ezadeen" waren 450 Menschen an Bord. Juristisch gesehen sind es illegale Einwanderer, menschlich gesehen Hilfsbedürftige. Und da ist noch der wirtschaftliche Aspekt, der in Bezug auf Menschenleben zu kurz greift: Die Schleuserbanden sehen in den 450 Passagieren der "Ezadeen" eine wertvolle Fracht. Tausende Dollar oder Euro musste jeder zahlen, um überhaupt den vom Rost entstellten Frachter betreten zu dürfen. Alles, was danach geschah oder noch geschieht, wird zum unkalkulierbaren Lebensroulette.

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Die italienische Küstenwache hatte gestern einen Notruf aufgefangen, der von der "Ezadeen" stammte, die sich rund 37 Kilometer vor der Küste von Crotone in der süditalienischen Region Kalabrien befand. Doch den Notruf hatte nicht die Mannschaft abgesetzt, weil das Schiff in Seenot geraten war. Es war ein Passagier, dem es gelungen war, das Funkgerät wieder flottzukriegen. Da war die Mannschaft längst von Bord gegangen und hatte ihre "Fracht", die ja längst einen hohen und fast risikolosen Gewinn gebracht hatte, im Stich gelassen. Das Schiff trieb anschließend manövrierunfähig ohne Treibstoff mit rund sieben Knoten Geschwindigkeit auf die Küste zu.

Die getürmte Mannschaft war das Risiko eingegangen, dass das Schiff untergehen könnte. Juristisch kommen da viele Tatbestände zusammen, auch an 450-fachen versuchten Mord muss man denken.

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Die "Ezadeen" fuhr unter der Flagge des westafrikanischen Staates Sierra Leone. Nachdem die Küstenwache das Schiff geortet hatte, wurden mit einem Hubschrauber eine Crew und einige Ärzte an Bord gebracht, die die Kontrolle über das 73 Meter lange Schiff übernahmen. Wie die italienische Nachrichtenagentur Ansa meldete, wurde die "Ezadeen" von einem isländischen Schiff der EU-Grenzschutzmission "Triton" abgeschleppt.

Der 1966 gebaute Frachter war einst für Viehtransporte benutzt worden und sollte den französischen Mittelmeerhafen Sète anlaufen. Wie der Schiffsinformationsdienst Marine Traffic gestern mitteilte, war der letzte bekannte Hafen, in dem das Schiff Mitte Dezember angelegt hatte, Famagusta im türkischen Nordzypern. Als vorheriger Hafen wurde nach Angaben von Marine Traffic Tartus in Syrien genannt.

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Wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex gestern betonte, zeigten Schleuserbanden mit diesen "Geisterschiffen, die ohne Besatzung und vollgepfercht mit Flüchtlingen ihrem Schicksal überlassen werden", einen "neuen Grad der Grausamkeit". Auch die Vereinten Nationen warnten vor der neuen Taktik skrupelloser Schleuserbanden. "Das ist eine neue Erscheinung dieses Winters", sagte eine Frontex-Sprecherin. Die europäische Agentur wurde im Oktober 2004 gegründet und ist für die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten an ihren Außengrenzen zuständig.

Erst vor wenigen Tagen war es zu einem ähnlichen Drama im Mittelmeer gekommen. In der Nacht zu Mittwoch waren fast 800 Flüchtlinge auf einem von der Mannschaft aufgegebenen Frachter vor Süditalien nur knapp einer Katastrophe entgangen. Die "Blue Sky M" hatte nach jüngsten Angaben 796 Menschen an Bord. Der Frachter war ebenfalls ohne Kontrolle auf die Küste zugesteuert. Das Schiff wurde von der italienischen Marine jedoch rechtzeitig entdeckt und unter Kontrolle gebracht.

(RP)
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