Sexuelle Gewalt in Indien Ein Platzverweis für die moderne Frau

Mumbai · Schon wieder erschüttert sexuelle Gewalt gegen Frauen Indien. Großbritannien und Frankreich haben als Konsequenz ihre Sicherheitshinweise für das Land verschärft. Unsere Autorin schreibt über ihre Eindrücke aus dem Heimatland ihres Vaters.

 Die Autorin des Textes, Verena Patel.

Die Autorin des Textes, Verena Patel.

Foto: Verena Patel

Ich gehe durch Mumbais Straßen und versuche, den Männern, die mir entgegenkommen, nicht ins Gesicht zu schauen, schon gar nicht, sie anzulächeln. Einfach ist das nicht, denn in den Gassen sind viele Menschen, die voller Neugier versuchen, meinen Blick zu erhaschen. Ich bin verkrampft. Arrogant komme ich mir vor, dabei versuche ich doch, bescheiden zu wirken, bloß nicht zu reizen.

Seitdem ich vor acht Jahren zum letzten Mal in Indien war, hat sich vieles verändert. Als Tochter eines Inders und einer Deutschen bin ich damals noch weite Strecken durch die Stadt gelaufen und zwar allein. Auch im Dunkeln. Angst hatte ich dabei nicht.

Doch seit eine junge Fotografin in Mumbai vor einigen Monaten von mehreren Männern vergewaltigt worden ist, fühle ich mich etwas unwohl, wenn ich aus Deutschland im Heimatland meines Vaters zu Besuch bin. Die junge Frau wurde in der Nähe der Wohnung meines Cousins angegriffen. Doch wir reden nicht darüber in der Familie. So wie die meisten Inder.

Eine Werteordnung wird auf den Kopf gestellt

Zwar beschämt es viele Inder zutiefst, wie ihr Land nach den vielen brutalen Massenvergewaltigungen weltweit wahrgenommen wird. Aufmerksam wird die Öffentlichkeit oft erst dann, wenn Aktivistinnen mit Plakaten auf die Straßen gehen und gegen das Bild der Frau in der indischen Gesellschaft vorgehen.

Die soziale Kluft ist groß, vor allem in den Städten. In Neu Delhi oder Mumbai treffen ungebildete Landbewohner auf moderne Frauen, die ihr eigenes Geld verdienen. Eine Werteordnung wird auf den Kopf gestellt. Die jüngsten Vergwaltigungen wirken daher auch wie ein Platzverweis an die moderne, eigenständige Frau: "Geh dahin zurück, wo du warst." Ich glaube aber, dass drakonische Strafen nicht die Lösung sind. Bildung und eine gerechte Sozialstruktur könnten es sein.

Mein Vater stellt mir Diana vor, sie ist in meinem Alter. Ob es denn weitere Vergewaltigungen gab in letzter Zeit, will ich von ihr wissen. Sie weicht aus, sagt lediglich, dass sich manche Touristinnen nicht gut auskennen. Sie hielten vielleicht Avancen für bloße Freundlichkeit, und dann nutzen diese Männer die Situation aus.

Auch Prominente engagieren sich

Mittlerweile machen auch Prominente wie Kalki Koechlin, eine bekannte Schauspielerin, im Internet auf die Unterdrückung der Frauen aufmerksam. Der Clip "It's your fault" ("Es ist deine Schuld") der Komikergruppe All India Bakchod hat bei Youtube mehr als drei Millionen Klicks erreicht. Koechlin verkündet dort mit einem Strahlen im Gesicht: "Hier seht ihr Kleidung, die zu Vergewaltigungen führen kann."

Neben Minirock und Trägerkleid sieht man auch eine Frau im Astronautenanzug. Die Satiriker fragen: "Was hatten alle diese Bilder gemein? Richtig: Überall waren Frauen zu sehen. Keine Frauen — keine Vergewaltigungen." Damit trifft der Clip einen empfindlichen Punkt. Indien ist eine männerzentrierte Gesellschaft. Jungen und Männer werden — auch in vielen gebildeten und wohlhabenden Familien — immer noch bevorzugt.

Nicht zuletzt zeigt sich das am Männerüberschuss im Land. Der Großteil aller abgetriebenen Föten ist weiblich. "Eve teasing" (Necken der Eva) ist im Gedränge für viele Frauen Alltag. "Wenn du im Bus fährst, ist es praktisch sicher, dass du angegrapscht wirst", sagt eine Bekannte. Ich bin noch nie in Indien Bus gefahren. Meine Tante erzählt mir von einer jungen Frau, die es gewagt hat, und von einer Männergruppe herausgeworfen wurde.

Unsere Autorin (30) ist Redaktionsmitglied der Rheinischen Post.

(RP)
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