Wohngemeinschaft in Haifa gemeinsam gegen Verdrängen In der "Straße der Überlebenden" verblasst Auschwitz nicht

Haifa · Der Volksmund in Haifa nennt sie die "Straße der Überlebenden", die kleine Gasse, in der rund hundert Holocaust-Opfer in enger Nachbarschaft leben. Diese ganz besondere Wohngemeinschaft stemmt sich gemeinsam gegen Vereinsamung und dagegen, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten in Vergessenheit geraten.

Diese Menschen leben in der "Straße der Überlebenden" in Haifa
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Foto: afp, mk/mcp/BLA

Siebzig Jahre nach der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ist diese schattige und ruhige Straße ein lebendiger Ort der mahnenden Erinnerung an die Schoah. Ursprünglich gab es in der Gasse nur eine Armenküche für betagte Einwohner Haifas. In dieser Hafenstadt im Norden Israels trafen nach dem Krieg viele jüdische Einwanderer aus Europa ein, die als einzige ihrer Familie den deutschen Vernichtungslagern entkommen waren. Sie stellten ihre Koffer ab und blieben.

"Sommer für Sommer wurde der Anteil der Hilfsbedürftigen größer, auf deren nackten Unterarmen wir die eintätowierten KZ-Nummern sahen", berichtet Tamy Sinar vom Verein "Jad Eser" ("Helfende Hand"). Die Idee entstand, rund um die Armenküche ein Heim für Holocaust-Überlebende zu errichten. Ab 2007 wurden mit Spenden und staatlichen Zuwendungen alle Wohnungen in der Gasse gekauft oder angemietet und ausschließlich an Schoah-Opfer vergeben.

Zwei Drittel sind Frauen

Rund ein Viertel der heute noch 180.000 Holocaust-Überlebenden in Israel lebt unter der Armutsgrenze, berichtet eine Stiftung, die sich für ihr Wohlergehen einsetzt. Das Durchschnittsalter liegt nach diesen Angaben bei 86 Jahren. Zwei Drittel sind Frauen, fast alle alleinstehend.

In der "Straße der Überlebenden" wurden Außenaufzüge errichtet und Gemeinschaftseinrichtungen geschaffen: ein Salon, ein Treff zum Bridge-Spiel und vor allem der Speisesaal für die beiden gemeinsamen Mahlzeiten täglich. Mittags herrscht am Fuß der Aufzüge Hochbetrieb. Gestützt auf Krückstöcke und Rollatoren bewegen sich die Männer unter Schirmmützen und die schick gekleideten Damen mit Frisuren in allen Farbtönungen zur Kantine.

Schoschana Kolmer amüsiert es immer noch, dass sie vor zwei Jahren zur "Miss Holocaust-Überlebenden" gekürt wurde. Nach jedem Mittagessen nimmt sich die 95-Jährige zur Sicherheit ein Stück Brot mit auf ihr Zimmer. "Ein ganzes Jahr lang habe ich damals nur 23 Kilo gewogen", erklärt sie diese Angewohnheit.

Sehen, ohne zu sehen: Der Alltag neben Auschwitz
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"Als ich in Auschwitz befreit wurde, bin ich in die Tschechoslowakei zurückgekehrt, wo es auch nichts zu essen gab." Auch in Israel habe sie zunächst oft Hunger gelitten, berichtet Schoschana: "Aber jetzt bin ich hier. Und hier isst man gut, sogar lecker." Als sie über ihr Jahr in Auschwitz spricht, richtet sich ihr Blick ins Leere: "Ich kann mich an alles erinnern, weiß aber nicht, wie ich überlebt habe. Ich bestand nur noch aus Angst, das war es."

"Wir leben immer mit der Schoah"

Während Schoschana spricht, räumt Nachbarin Chava, fünf Jahre jünger und rüstiger, ein wenig deren Zimmer auf. "Wir leben immer mit der Schoah", sagt Chava: "Wir sprechen darüber und wachen nachts weinend aus Albträumen auf." Wenn sie Schoschana nachts schreien höre, gehe sie zu ihr herüber und sage ein paar Worte zur Beruhigung. "Es ist die gleiche gegenseitige Fürsorge wie damals in den Lagern."

Bis in die sechziger Jahre interessierte sich in Israel kaum jemand für das Schicksal der Holocaust-Überlebenden; der Aufbau des eigenen Staatswesens stand im Vordergrund. Inzwischen ist das Erinnern an die Schoah über Gedenkveranstaltungen, den Schulunterricht und Klassenfahrten nach Auschwitz fest in der israelischen Gesellschaft verankert.

Doch Judith Herschkowitz, ebenfalls Bewohnerin der "Straße der Überlebenden" bezweifelt, "dass es so bleibt, wenn es keine Großeltern mehr gibt, die den Enkeln davon erzählen". Betreuerin Sinar beruhigt sie: "Ich bin ganz sicher, dass wir, die nachfolgende Generation, es nicht zulassen werden, dass das Geschehene in Vergessenheit gerät."

(AFP)
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