Imageverlust der Olympiastadt befürchtet London unter Schock nach zweiter Krawallnacht

London (RP). "Es ist wie im Zweiten Weltkrieg, wie in den Berichten aus Syrien", sagt aufgeregt ein Mann dem Fernsehsender Sky News. "Sie haben uns das Herz herausgerissen", klagt ein Abgeordneter. Szenen aus dem "Kriegsgebiet" Tottenham im Londoner Norden gehen um die Welt: weinende Menschen, qualmende Ruinen der Wohnhäuser, geplünderte Geschäfte und verkohlte Autos in den abgesperrten Straßen. So wollte sich die Olympiastadt-2012 gewiss nicht nach außen präsentieren.

London 2011: Schwerste Ausschreitungen seit Jahren
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London 2011: Schwerste Ausschreitungen seit Jahren

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Das Königreich hat 100 Millionen Pfund in eine globale Werbekampagne investiert, die Touristen zum größten Sportereignis der Welt an die Themse locken soll. Erst vor ein paar Wochen feierte London mit Partys, Feuerwerken und großen Versprechen den einjährigen Countdown bis zu den Spielen. Viele Politiker befürchten jetzt, dass zwei Nächte voller Gewalt das Image der friedlichen und relativ sicheren, multiethnischen Großstadt schwer beschädigt haben.

Die britische Metropole mit acht Millionen Einwohnern stand am Montag unter Schock nach einer zweiten Gewaltwelle, die diesmal verschiedene Teile der Stadt erschüttert hat. Während am Wochenende nur Tottenham von den Unruhen betroffen war, gab es in der Nacht zu Montag Krawalle und Plünderungen in den nördlichen Bezirken Enfield, Walthamstow, Islington und erstmals auch südlich der Themse in Brixton.

Erneute Zusammenstößte am Montagabend

Die besser vorbereitete Metropolitan Police (Met) hatte die Einsatzkräfte durch berittene Einheiten und Polizisten mit Hunden verstärkt. Dennoch schafften es die mobilen "Jugendbanden" von bis zu 200 Teilnehmern erneut, einen beträchtlichen Schaden anzurichten.

Am dritten Tag der schweren Ausschreitungen sind in zwei weiteren Stadtteilen Fahrzeuge und Gebäude in Brand gesetzt worden. Südlich der Themse standen im Viertel Peckham am Montag ein Gebäude und ein Bus in Flammen. Über der Stelle stiegen dicke Rauchwolken auf. In der nahegelegenen Gegend Lewisham wurde eine Reihe von Autos in Brand gesteckt.

Auch am Montagabend gab es wieder Zusammenstöße zwischen der Polizei und den Jugendlichen. Randalierer haben erneut Schaufenster zertrümmert, in Hackney wurden offenbar abermals einige Geschäfte geplündert und ein Bus zerstört. Seit Beginn der Ausschreitungen wurden 215 Randalierer verhaftet.

Die Bilder der Ausschreitungen erinnern an die Krawalle zwischen den Protestanten und Katholiken in der nordirischen Hauptstadt Belfast. Nur dass diese Straßenkämpfe fünf Kilometer entfernt vom Big Ben stattfinden. Erneut werden Geschäfte ausgeräumt und in Brand gesteckt, Polizeiautos werden zerstört und die Sicherheitskräfte werden mit Steinen und Flaschen angegriffen. Einige Randalierer in Enfield haben versucht, drei Polizisten mit einem Auto zu überfahren. Die verletzten Offiziere mussten in einem Krankenhaus behandelt werden.

Insgesamt sind seit dem Beginn der Ausschreitungen 35 Ordnungshüter teilweise schwer verletzt worden. Und niemand weiß, ob es vorbei ist. Niemand kann vorhersagen, welches Viertel als nächstes brennen wird. Es gab am Montag mehr Fragen als Antworten. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass zwei verhängnisvolle Fehler der Polizei am Samstag den Ausbruch der Gewalt in einem der ärmsten Wohngebiete Großbritanniens begünstigt haben könnten.

Erinnerungen an die Krawalle von 1985

Erstens soll die Met es versäumt haben, nach einer tödlichen Schießerei am Donnerstag in Tottenham die örtliche Gemeinde zu kontaktieren und zu beruhigen. Zweitens hat sie offenbar die kriminellen "Trittbrettfahrer" bei einer friedlichen Protestaktion unterschätzt, die bereits bei den Studentenkrawallen in London im vergangenen Herbst Teile der Londoner Innenstadt verwüstet haben.

Vor fünf Tagen wurde in Tottenham der angebliche "Gangster" Marc Duggan erschossen. Es hieß zunächst, dass der 29-Jährige aus einem Taxi auf Polizisten gefeuert habe, als diese ihn verhaften wollten. Daraufhin sei er von einem Offizier getötet worden. Nach neuen Informationen hatten jedoch die Einsatzkräfte beide Schüsse abgegeben. Unter welchen Umständen, bleibt unklar. Immerhin soll Duggan eine Waffe mitgeführt haben. 48 Stunden lang warteten die Angehörigen des Getöteten vergeblich auf eine Erklärung der Met.

Als seine Freunde einen Protestmarsch am Samstagabend zum Polizeirevier ankündigten, zirkulierten bereits Gerüchte über eine angebliche kaltblütige "Exekution" des mehrfachen Vaters durch einen Kopfschuss. Statt Duggans Familie zu informieren und sich mit Vertretern der Gemeinde zu treffen, soll jedoch die zuständige Polizeichefin angeblich in den Urlaub nach Florida geflogen sein. "Wir hatten die Behörden gewarnt, doch unsere Hinweise wurden sträflich ignoriert", sagen jetzt die Einwohner Tottenhams, die die tragischen Ereignisse in ihrem Stadtteil vor 26 Jahren nicht vergessen haben.

Der Name "Broadwater Farm" (BF) steht für einen der schlimmsten Krawalle in der Geschichte der britischen Hauptstadt. Am 6. Oktober 1985 brachen in diesem Sozialwohnungsviertel mit 4.000 Einwohnern Unruhen aus, nachdem eine 49-jährige Frau nach einer Polizeirazzia in ihrer Wohnung an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben war. Bei den darauffolgenden Krawallen wurden rund 250 Polizisten verletzt und ein Offizier wurde von der wütenden Menge mit mehr als 40 Messerstichen getötet.

Ansteigende Arbeitslosigkeit

Die Stadt hatte nach der Tragödie 33 Millionen Pfund in die Verbesserung der Lebensbedingungen in Tottenham investiert. Die grauen Wohnburgen wurden angemalt, ein neues Kinderzentrum wurde gebaut, in die leerstehenden Läden zogen kleine Werkstätten ein. Trotz einiger Teilerfolge — so sank die Zahl der Wohnungseinbrüche in BF zwischen 1985 und 2010 um das 30fache — haben es jedoch die Politiker nicht geschafft, die Ursachen der sozialen Spannungen zu beseitigen. "Wir leben wie Tiere, eingesperrt in einem engen Käfig", sagt die Journalistin Rizwana Hamid, die 1985 über die Krawalle berichtet hat. "Die Menschen hier sind verbittert, und sie haben keinen Respekt vor der Polizei."

Teile des Bezirks Haringey, zu dem auch Tottenham gehört, zählen zu den ärmsten zehn Prozent aller britischen Wohnviertel. Die Arbeitslosigkeit hier ist im vergangenen Jahr um zehn Prozent gewachsen. Zugleich hat der Stadtrat von Haringey im Zuge der allgemeinen Sparmaßnahmen seinen Haushalt um 41 Millionen Pfund gekürzt und zahlreiche Jugendprogramme geschlossen. Die starke Zuwanderung sorgt für zusätzliche Spannungen: Nach BBC-Angaben gehören 70 Prozent der Bewohner von BF zu ethnischen Minderheiten. Die Menschen hier sprechen 39 verschiedene Sprachen.

Dennoch sind die Experten überrascht über die Ausmaße der Ausschreitungen. Sie warnen die Öffentlichkeit vor einer Welle der "Freizeit-Kriminalität" der Jugendlichen, die sich per Twitter und Facebook organisieren und die bevorzugt über den Nachrichtendienst des Mobilfunkanbieters Blackberry Kontakt halten. "Wir wissen nicht, wer sie sind. Aber sie kamen zu uns mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und per Auto. Und sie waren sehr gut organisiert", beschrieb am Montag der Stadtrat von Enfield, Doug Taylor, die Randalierer.

Die Gewaltwelle stellt die Organisatoren der Olympischen Spiele vor eine neue Herausforderung. Bislang wollte die Metropole für die Sicherheit des Sportfestes 770 Millionen Dollar auszugeben und eine Armee aus 12.000 Polizisten einzusetzen. Diese Pläne müssen jetzt möglicherweise korrigiert werden.

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