Nepal Auch Kinderseelen müssen aufgebaut werden

Bhaktapur · Nepal kämpft mit internationaler Hilfe um die Rückkehr zum Alltag. Es wird ein Wettlauf mit der Zeit. Ein Ortstermin mit der Kindernothilfe.

Menschen bauen in Nepal ihre Heimat wieder auf
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Menschen bauen in Nepal ihre Heimat wieder auf

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Foto: Helmut Michelis

Der Staub verklebt die Augen, knirscht zwischen den Zähnen; die Sonne brennt. "Schnell, schnell", ruft der Nepalese Rabindra Puri (45) warnend. In unsicherem Laufschritt geht es über dicht an dicht herumliegende Trümmer, Sekunden später fliegen von oben weitere Ziegel, Balken und Bretter herab, landen krachend in der engen Gasse — lebensgefährlich ist zurzeit ein Spaziergang durch die einst bei Touristen beliebte Stadt Bhaktapur. Sie wurde bei der Erdbebenkatastrophe in Nepal besonders schwer getroffen.

Die Verwüstung macht sprachlos, erinnert an Fotos von deutschen Städten zum Kriegsende 1945. "Trümmerfrauen", die damals den Schutt wegschafften und noch brauchbare Ziegelsteine säuberten und am Straßenrand aufschichteten, die gibt es jetzt auch in dem kleinen asiatischen Hochgebirgsland. Aufregt versuchen zwei dieser Helferinnen von einem Schuttberg herab auf sich aufmerksam zu machen — knapp einen Monat nach dem letzten schweren Erdstoß haben sie gerade eine weitere Leiche gefunden.

8220 Bebenopfer sind nun registriert, darunter fünf deutsche Staatsbürger. Vier weitere Deutsche würden noch immer vermisst, berichtet Botschafter Matthias Meyer in der Hauptstadt Kathmandu.

Allein 200 Menschen starben in der Altstadt Bhaktapurs, das mit seinen imposanten Tempelanlagen zum Weltkulturerbe gehört. Doch inmitten des Chaos schmiedet Rabindra Puri, der in Bremen Kunstgeschichte studiert hat und in Verbindung zur international tätigen Kindernothilfe in Duisburg steht, irritierend konkrete Wiederaufbaupläne — ein kühner Visionär, der von seinen Mitbürgern als Spinner abgetan wurde, bis er 2004 von der Unesco, der Kulturorganisation der Vereinten Nationen, wegen seiner Verdienste um die Denkmäler Nepals mit einem Sonderpreis ausgezeichnet worden ist.

Puri orientiert sich an alter erdbebensicherer Architektur und hat durch seine Erfolge einen Traum verwirklichen können: Er besitzt heute eine Baufirma mit 250 Angestellten und hat eine Gewerbeschule für Bauhandwerker gegründet. In seinen jüngsten Neubau, asiatisch-phantasievoll das "Schlangenhaus" genannt, hatten sich während der Beben rund 60 Menschen geflüchtet. "Die wussten: Dieses Haus wird garantiert nicht einstürzen."

Jetzt hat Puri ein erdbebensicheres Wohnhaus zum Preis von 10 000 Euro konzipiert und hofft, dass die Regierung es für diejenigen bezuschussen wird, die kein Dach über dem Kopf mehr haben. Der Nepalese eilt unermüdlich durch die Tempelstadt, zeigt sie seinen Gästen und gibt Arbeitern Anweisungen: Die beschädigten Monumente sollen abgedeckt, die herabgefallenen Steine registriert und gesichert werden, um sie später wieder möglichst originalgetreu einsetzen zu können — ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn der alljährliche dreimonatige Monsun mit heftigem Regen droht. Restaurierungsarbeiten sind dann nicht mehr möglich, und die nicht geschützte Bausubstanz würde durch das herabprasselnde Wasser zusätzlich gefährdet.

Idealisten wie Puri, der 1993 nach Deutschland kam und es als seine zweite Heimat bezeichnet, braucht Nepal ebenso dringend wie die breite internationale Hilfe: Noch immer sind Tausende Menschen in kleinen Bergdörfern von der Außenwelt abgeschnitten. Schon beim Landeanflug auf Kathmandu wird das Problem deutlich: Bis zu 5000 Meter hoch siedeln die Nepalesen in einer malerischen, aber unzugänglichen Bergwelt; die wenigen Straßen in den Tälern und an den Hängen sind fast ständig überlastet und werden immer wieder durch Erdrutsche blockiert.

Verkehrschaos pur auch in einem kleinen Dorf am Oberlauf des Trishuli im Bezirk Nuwakot im Norden Nepals: Arbeiter laden von einem Lastwagen rote Ziegelsteine ab, ein Tieflader mit einem Bagger steckt zwischen Überlandbussen, Kleintransportern und Jeeps fest, dazwischen kurven ungezählte Motorräder. In Nuwakot und in Sindhupalchok an der chinesischen Grenze wüteten die beiden Beben am schlimmsten. Doch der Stau ist ein gutes Zeichen: Nepal kehrt nach den Schrecken der letzten Wochen wieder ins Alltagsleben zurück. Allerorten wird aufgeräumt; auffällig ist die Eigeninitiative der Bevölkerung: Vor allem junge Leute verabreden sich spontan und helfen beim Abriss der einsturzgefährdeten Gebäude — eine Aufgabe, die Jahre dauern kann angesichts von 288 800 total zerstörten und weiteren 254 000 schwer beschädigten Wohnhäusern.

Geschäfte sind wieder geöffnet, Menschen schichten Steine auf und räumen Wege frei, dazwischen bahnen sich Kinder in Schuluniformen den Weg. Der Unterricht hat wieder begonnen — auch dank Organisationen wie der Kindernothilfe. Sie kümmert sich jetzt — nach der ersten Nothilfe wie Zeltlieferungen und Hygiene-Kits — in Zusammenarbeit mit bereits langjährig vor Ort tätigen internationalen Partnerorganisationen besonders um die Seelen der Menschen: Verstörte Kinder sollen wieder fröhlich sein. Wie zum Beweis dringt helles Lachen aus einem kleinen Schulhaus aus Bambus in Kaping im Bezirk Sindhupalchok.

Das Haus steht in 1445 Meter Höhe auf einer Felsnase, atemberaubender Ausblick ins tiefe Tal inklusive. Doch die aufgeregten Kinder haben nur Augen für die Rucksäcke und Hefte, die ihnen zum Schulstart feierlich überreicht werden. Die Katastrophe hat auch die Bildungsnot in Nepal verschärft, in einigen Regionen sind 90 Prozent der Schulen zerstört worden — ein weiterer Schwerpunkt der Helfer aus Duisburg.

In einem ärztlichen Zentrum, das die französische Hilfsorganisation ACF mit Unterstützung der Kindernothilfe aufgebaut hat, berichtet Tulsa Adhikari (32) einem Psychologen von ihren schrecklichen Erlebnissen: Ihr Haus sei einsturzgefährdet und dürfe nicht mehr betreten werden; am schwierigsten sei der Kampf ums tägliche Überleben. Die Reis- und Gemüserationen für ihre achtköpfige Familie reichten kaum aus; ihr Mann, der in der Hauptstadt Kathmandu gearbeitet habe, verdiene nun kein Geld mehr. "Wir leben von der Hand in den Mund. Ich bin dankbar, dass ich hier Menschen finde, die meine Probleme teilen."

Eine junge Frau beteiligt sich lebhaft in Englisch an dem Gespräch, erwähnt stolz, dass sie diese Sprache durch die Touristen gelernt hat, weil Bruder und Vater als Fremdenführer arbeiteten. Doch unvermittelt bricht sie in Tränen aus: "Durch das Beben habe ich mein Baby und meine Schwester verloren." Unbeholfen, aber liebevoll versucht ihre kleine Tochter, die verzweifelte Mutter zu trösten.

Der Schock sitzt allgemein tief; die Frauen und Kinder finden bei ACE einen geschützten Raum. "Durch die Gespräche können wir posttraumatische Belastungsstörungen verhindern", sagt Christoph Dehn vom Vorstand der Kindernothilfe. Er ist nach Nepal geflogen, um sicherzustellen, dass das Geld der Organisation sinnvoll verwendet wird, und prüft, ob sich weitere Aktionen anschließen sollten, vielleicht sogar Nepal dauerhaft ins Programm der Kindernothilfe aufgenommen wird.

"Vorrangig führen wir Projekte durch, die Kindern langfristig helfen." Aber es gehe der Kindernothilfe auch um schnelle Reaktion bei großen Katastrophen: "Wir haben sehr schnell von der großen Not der Kleinen in Nepal durch die Katastrophe erfahren, auch von ihrer großen Angst,

wieder in Häuser zurückzukehren. So werden wir zunächst zwei Millionen Euro investieren." Ob und wie es weitergehe, hänge nicht zuletzt vom weiteren Spendenaufkommen ab, meint Dehn.

Neben den internationalen Profis wie der Kindernothilfe sind viele private Helfer auf eigene Faust nach Nepal gereist. Da ist die Niederländerin Helena aus Groningen, die daheim Geld gesammelt und sich in Kathmandu einer britischen Hilfsorganisation angeschlossen hat. Sie veranstaltet mit einer Freundin kleine Feste in Flüchtlingscamps, um die Kinder von ihren Erlebnissen abzulenken. Die Bundeswehr-Sanitäterin Svenja aus Berlin wollte eigentlich Urlaub in Nepal machen und betreut nun schwer verletzte Erdbebenopfer, ihre medizinischen Kenntnisse sind dabei hochwillkommen. Helena geht jede Nacht mit anderen Helfern und Touristen auf Patrouille: Die Ausländer bewachen spontan hölzerne Tempel, damit sie im allgemeinen Durcheinander nicht für Feuerholz oder als Baumaterial geplündert werden.

Botschafter Matthias Meyer warnt davor, sich bereits jetzt ausschließlich auf den Wiederaufbau zu fokussieren. Es müsse noch immer akute Nothilfe geleistet werden. Nach Angaben der Vereinten Nationen haben 1,9 Millionen Menschen im Land zu wenig zu essen. Meyer bittet: "Wir dürfen Nepal nicht aus den Augen verlieren. Die Menschen brauchen unsere Unterstützung."

Rabindra Puri und Christoph Dehn haben bei einem Treffen beschlossen, künftig auch gemeinsame Hilfe zu leisten: Jugendliche aus den laufenden Projekten der Kindernothilfe sollen die Möglichkeit bekommen, über die Monsun-Monate an Puris Gewerbeschule für Bauhandwerker ausgebildet zu werden — so bekommen sie eine berufliche Chance und können den Wiederaufbau tatkräftig mitgestalten.

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