Geschäfte, Werkstätten, Schulen Pandschir — wo Afghanistan friedlich ist

Basarak (RPO). Bis 2014 soll die Regierung in Kabul selbst für die Sicherheit im ganzen Land sorgen. Präsident Hamid Karsai hat die ersten sieben Regionen benannt, aus denen die Kampftruppen der Nato bereits jetzt abrücken können. Erwartungsgemäß ist Pandschir im Nordosten von Afghanistan dabei, eine wild-romantische Berglandschaft mit wehrhaften Einwohnern.

 Schulmädchen in der Stadt Anaba. Auf den Straßen gibt es viele Hinweise für so etwas wie Normalität.

Schulmädchen in der Stadt Anaba. Auf den Straßen gibt es viele Hinweise für so etwas wie Normalität.

Foto: RP, Michelis

Durch das weite grüne Tal schlängelt sich ein blauer Fluss. Hell lässt die Sonne den Schnee aufleuchten, der malerisch die Spitzen majestätischer Bergmassive krönt. Man könnte sich Pandschir als Urlaubsziel vorstellen — wenn die Anreise nicht so gefährlich wäre. In dieser für den Afghanistan-Besucher unerwarteten Oase des Friedens beginnt in diesem Jahr der offizielle Abzug der Nato-Schutztruppe Isaf. 2014, so lautet das hochgesteckte Ziel, soll das gesamte Land am Hindukusch allein von afghanischen Soldaten und Polizisten beschützt werden.

"Fünf Löwen"

Pandschir, eine der 34 Provinzen Afghanistans, bedeutet auf Persisch "fünf Löwen". Die starken Tiere haben eine hohe Symbolkraft für die rund 145.000 Einwohner der Provinz. Die wehrhaften Pandschiri sorgen seit Jahren selbst für ihre Sicherheit — wäre es doch überall so friedlich im Land. Hier wirkt sich positiv aus, was insgesamt ein fast unlösbares Problem darstellt: Afghanistan sieht aus wie ein bunter Flickenteppich, färbt man die Landkarte nach Volksgruppen ein. Es gibt neun maßgebliche Gruppen, darunter die Paschtunen, aus den sich die meisten Taliban rekrutieren. Diese radikal-islamischen Kämpfer terrorisieren noch immer weite Teile Afghanistans mit Selbstmordattentaten, Bombenanschlägen und Hinterhalten.

In Pandschir leben dagegen mehrheitlich Tadschiken, die auf die Paschtunen nicht gut zu sprechen sind. Die Taliban hätten, ebenso wie die Russen vorher, Pandschir trotz vieler Versuche niemals ganz erobern können, berichten die Einwohner stolz. Ungezählte Panzerwracks an Straßen und auf Feldern sind die stählernen Zeugen, dass hier heftig gekämpft worden ist. Die hässlichen Relikte aus drei Jahrzehnten Krieg wollten die Afghanen nicht wegräumen, berichtet Elizabeth Smithwick von der amerikanischen Hilfsorganisation US Aid. "Sie sehen darin Denkmäler ihrer Wehrhaftigkeit."

"Löwe von Pandschir"

Verrostete Panzer säumen auch den Platz vor dem im Bau befindlichen Monument für den größten Sohn der Provinz, Ahmed Schah Massud. Er war einer der bekanntesten Mudschaheddin-Kämpfer gegen die sowjetischen Besatzungstruppen. Das brachte ihm den Ehrentitel "Löwe von Pandschir" ein. Das US-Wirtschaftsmagazin "Wall Street Journal" würdigte den Freiheitskämpfer auf seiner Titelseite sogar als "Der Afghane, der den Kalten Krieg gewann".

Ende 2001 wurde Massud, zugleich Hoffnungsträger des Westens, offiziell zum Nationalhelden Afghanistans ernannt und 2002 für den Friedensnobelpreis nominiert — posthum. Denn am 9. September 2001, zwei Tage vor den Terroranschlägen in New York und Washington, war Massud durch arabische Selbstmordattentäter tödlich verletzt worden. Sie sollen ebenfalls dem internationalen Terrornetzwerk al Qaida um Osama bin Laden angehört haben. Mit Massud ermordeten sie einen Mann, der Afghanistan hätte einen können.

Die Helden sind nicht vergessen

Bis heute haben die Bewohner von Pandschir ihren Helden nicht vergessen: Überall hängen Plakate oder Fotos von Massud, natürlich auch im Dienstzimmer von Gouverneur Kiramudin Karim. Ihm gefällt die jüngste Entwicklung gar nicht. "Es ist noch zu früh für eine solche Übergabe", warnt er eindringlich. "Die Gefahr ist zu groß, dass die Taliban zurückkommen. Erst müssen die afghanische Armee und die Polizei verstärkt werden."

Die internationale Vorgehensweise, mit Millionensummen vorrangig den Wiederaufbau in den instabilen Provinzen wie Kandahar oder Helmand zu finanzieren, um die Taliban zu verdrängen, gefällt den Pandschiri gar nicht. Sie würden dafür bestraft, dass sie eine Vorzeigeprovinz seien, meinen sie empört. Lang ist ihre Wunschliste, die sie William Martin, dem zivilen Direktor des US-Wiederaufbauteams in Daschtak, vorlegen.

Fischfarmen und Kühlhäuser

In Absprache mit der Bevölkerung betreuen und bezahlen die Amerikaner zahlreiche Projekte von der Wiederaufforstung der Region und der Gründung von Fischfarmen über den Bau von Kühlhäusern und einer Windkraftanlage bis hin zur ersten Rundfunk-Station nur für Frauen. Zwar scheint die Emanzipation in Pandschir deutlich weiter fortgeschritten zu sein als in anderen Landesteilen, wo viele Frauen nur unter dem Ganzkörperschleier Burka das Haus verlassen dürfen. Doch ist das kleine Studio leer, als der männliche Journalist aus Deutschland hereingeführt wird. Ein Gespräch mit den Moderatorinnen ist nicht erwünscht.

Auf der Fahrt in die Provinzhauptstadt Basarak sind indes größere Gruppen von Mädchen mit weißen Kopftüchern auf dem Weg zur Schule zu sehen, was unter der Taliban-Herrschaft strikt verboten war. Die Frauen in der Umgebung des Gouverneurs treten selbstbewusst auf. 2009 wählten die Pandschiri sogar eine Frau ins Parlament in Kabul, die Juristin Rahila Salim. Das düstere Thema Drogenanbau — Afghanistan ist immer noch weltgrößter Heroin-Lieferant — spielt in Pandschir ebenfalls keine Rolle. Stattdessen werden wertvolle Steine wie Smaragde und der tiefblau glänzende Lapislazuli gefördert. Einst habe Massud damit seine Waffen bezahlt, heißt es.

Geschäfte, Werkstätten, Schulen

Die neue Lebensader von Pandschir ist dagegen dunkelgrau: Für afghanische Verhältnisse stellt die unscheinbare, rund 60 Kilometer lange Asphaltstraße, die sich durch das Gebirgstal schlängelt, einen gigantischen Fortschritt dar. Sie hat die Entwicklung der Region massiv gefördert: Entlang der von US Aid bezahlten Straße reihen sich Geschäfte, Werkstätten, Schulen und Verwaltungsgebäude.

"Diese neue Straße ist ein Segen. Doch müssen die Leute noch lernen, sie richtig zu benutzen. Die Fahrer sind viel zu schnell unterwegs", meint ein 55-Jähriger in der Ortschaft Anaba. Tatsächlich ist man an den Autoscooter auf der Kirmes erinnert, bei dem es ebenfalls keine Regeln gibt. Immer wieder wird der kleine US-Konvoi von Motorrädern, Pkw und sogar Lastwagen in unübersichtlichen Kurven riskant überholt. Die Fußgänger, vor allem die Kinder, sind sich der Gefahr nicht bewusst und gehen häufig nicht einmal zur Seite. Zu Bremsmanövern zwingen auch Ochsen oder Ziegen. Im Graben liegt ein verbeulter weißer Pkw, Opfer eines Ausweichversuchs.

Rotlicht in der Nacht

Zurück im US-Camp in Daschtak bricht, deutlich schneller als in Europa, die Dämmerung herein. Trotz der Finsternis dürfen außerhalb der Gebäude alle nur ein schwaches Rotlicht benutzen — zur Sicherheit. Denn ringsherum sind Berge, das Lager ließe sich von dort gut einsehen und beschießen. Doch geht niemand von einer echten Gefährdung aus. Denn das Pandschir-Tal wird gerade von diesen bis zu 6000 Meter hohen Bergen beschützt. Unerwünschte Eindringlinge könnten sie nur schwer überwinden.

Längst haben die US-Soldaten die Bewachung ihres Feldlagers mit dem kernigen Namen "Löwennest" an Pandschiri mit langen Bärten und in Landestracht übergeben. Mit alten russischen Kalaschnikow-Gewehren sorgen die 25 Männer für den Schutz des Camps. Etliche Ex- Mudschaheddin sollen unter ihnen sein. Die amerikanischen Soldaten haben andere Aufgaben übernommen — wie Oberstleutnant Jeff Casada (45). Der Reservist ist Agrarwissenschaftler an der Universität von Kentucky und hilft neun Monate bei der Ausbildung der örtlichen Landwirte. 11 500 Bauern sind in diese Projekte eingebunden.

Bauern lernen Technik

Ist sein Arbeitgeber verärgert über die lange Abwesenheit? "Im Gegenteil", meint Casada. "Die Uni hat vorher sogar mein gesamtes Team geschult." Im Hintergrund brummt ein kleiner Motorpflug — eine Gruppe Bauern lässt sich in das neue Gerät einweisen, das ihnen die Feldarbeit erleichtern soll.

Eine ungewöhnliche Erfolgsstory ist auch die "Operation Polaroid": US-Soldaten knipsen Familien und Kinder mit Sofortbild-Kameras und schenken ihnen die Fotos. Da kaum ein Afghane eine Kamera besitzt, wird diese vertrauensbildende Aktion begeistert aufgenommen.

Im Pandschir-Tal ist der Nato das gelungen, was sie sich für ganz Afghanistan erhofft: Die Bevölkerung ist auf ihrer Seite und freut sich über die Waffenruhe und den bescheidenen Wohlstand. So spricht ein Ersatzteilhändler in Anaba für viele, wenn er hofft, dass die Amerikaner trotz der Übergabe der Sicherheitsverantwortung nicht so schnell abziehen: "Seitdem laufen meine Geschäfte sehr gut. Es geht für uns erkennbar aufwärts."

(RP)
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