Lehren aus der Anschlagsserie Paris ist unsere Bewährungsprobe

Meinung | Düsseldorf · Die Anschläge von Paris rufen die ersten Scharfmacher auf den Plan – schon werden Flüchtlinge unter Generalverdacht gestellt. Wenn das Schule macht, ist das nicht nur ein Verrat an europäischen Werten. Es wäre der Sieg der Terroristen.

Anschläge in Paris: Die blutige Spur des Terrors
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Tatort Paris – die blutige Spur des Terrors

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Foto: afp, le

Die Anschläge von Paris rufen die ersten Scharfmacher auf den Plan — schon werden Flüchtlinge unter Generalverdacht gestellt. Wenn das Schule macht, ist das nicht nur ein Verrat an europäischen Werten. Es wäre der Sieg der Terroristen.

Terroristen erreichen ihre Ziele unter zwei Bedingungen: dass sie möglichst viele Unschuldige treffen und dass sie mit ihren Taten etwas bewirken. Was die erste Bedingung angeht, waren die Mörder von Paris auf eine obszöne Weise effektiv. Gut eine Handvoll Täter, aber mehr als 120 Opfer — die Anschläge vom Freitagabend haben eine schockierende Dimension.

Ob sich auch die zweite Bedingung erfüllt, haben die Terroristen nicht selbst in der Hand. Das liegt an uns. Ein Blick zurück macht allerdings eher pessimistisch: Oft haben sich große Terroranschläge als "Gamechanger" erwiesen — als Ereignisse, die mit einem Mal die Regeln des "Spiels" ändern, nach denen alles anders ist, auch die Politik. Der 11. September 2001 als Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts war so ein Gamechanger. Er löste einen Krieg in Afghanistan und einen im Irak aus; auch weil die Irak-Invasion so dilettantisch geplant und umgesetzt war, steht heute der halbe Nahe und Mittlere Osten in Flammen.

"Charlie Hebdo" war anders

Die Bombenanschläge von Madrid 2004 ereigneten sich drei Tage vor der Parlamentswahl, und sie stellten das erwartete Ergebnis auf den Kopf. Die konservative Regierung wurde (auch weil sie zunächst versuchte, den Anschlag baskischen Terroristen in die Schuhe zu schieben statt Al Kaida) vom Hof gejagt, die Sozialisten übernahmen die Macht. Einen Monat nach der Wahl ordnete der neue Regierungschef José Luis Rodrigo Zapatero den Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak an.

2005 explodierten im Londoner Nahverkehr vier Bomben. Großbritannien hat sich seither, begünstigt durch seine Insellage, in eine Festung verwandelt, be- und überwacht von rund zwei Millionen Überwachungskameras und an den möglichen Zugängen — Häfen, Flughäfen und dem Eurotunnel — beinahe hermetisch abgeschottet nicht nur gegen Verdächtige aus aller Welt, sondern auch gegen die Verzweifelten aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens.

Und 2015? Ist dieser Effekt bislang ausgeblieben — die Attacke auf die Satirezeitung "Charlie Hebdo" und einen jüdischen Supermarkt in Paris im Januar hat sich bisher nicht als "Gamechanger" erwiesen. Der blutige Freitag aber hat eine andere Dimension als die Angriffe vom Januar. Natürlich geht es jetzt um die Flüchtlingskrise, um Europas Umgang mit dieser riesigen Herausforderung. Und weil Deutschland vom Zustrom am stärksten betroffen ist, geht es auch und vor allem um unsere, die deutsche Reaktion auf das Massaker von Paris.

Jetzt geht es um unsere Werte

Die Scharfmacher sind schon unterwegs. Es sind nicht nur Wirrköpfe wie der Journalist Matthias Matussek, der in einem mit Smiley garnierten Tweet kundtat, die Morde würden "auch unsere Debatten über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen". Es sind auch ernstzunehmendere, weil politisch einflussreichere Gestalten wie der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU), der ebenfalls bei Twitter schrieb, Paris ändere alles, und im nächsten Satz nachschob: "Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zugelassen."

Hier schwingt sich nicht nur jemand ungefragt zum Vermächtnisverwalter der 129 Toten auf. Solche Botschaften zeigen auch, dass die Mörder von Paris Erfolg haben könnten. Denn es geht jetzt darum, was wir selbst aus Paris machen. Ob wir zu unseren abendländischen Werten und Rechten stehen, die wir als universell gültig erkannt haben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Oder amerikanisch: Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

Terror wird keinen Erfolg haben

Ja, es bleibt richtig, den Elenden aus Syrien und dem Irak bei uns Obdach zu gewähren. Ja, es bleibt richtig, für Kriegsflüchtlinge keine Obergrenze zu nennen, auch wenn man gleichzeitig über eine Begrenzung des Zuzugs nachdenkt. Nein, es ist falsch, sich abzuschotten und das Visier herunterzuklappen, wie das die Osteuropäer und die Briten tun — dass sich ein Teil der europäischen Familie nicht an Europas Werte hält, macht diese Werte nicht ungültig. Und es ist verheerend, jetzt die Morde von Paris mit der deutschen Zuwanderungsdebatte zu verrechnen. Bei Pegida, in der AfD und noch weiter rechts dürfte man sich schon die Hände reiben.

Die Terroristen werden keinen Erfolg in dem Sinne haben, dass sie unseren Alltag über den Haufen werfen. Wir werden weiter ins Kino gehen, zum Fußball, zum Einkaufen, und wir werden das in wenigen Wochen, so tickt der Mensch nun mal, auch wieder unbeschwert tun. Unsere Rechtsstaaten werden die Schuldigen verfolgen und sie hoffentlich zur Strecke bringen; dazu können vorübergehende Einschränkungen unserer großen Freiheit gehören wie Grenzkontrollen oder dauerhafte wie umfassendere Datenspeicherung.

Aber wir alle, wir Bürger Europas, dürfen in unseren Köpfen nicht vor den Mördern kapitulieren, indem wir uns die Regeln unserer politischen Debatte diktieren lassen. Das ist unsere Bewährungsprobe.

(fvo)
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