Essay Die Satire, die wir meinen

Selbstzensur wäre nach der Tragödie von Paris ein falsches Signal. Die bitterböse, aber auch subtile Titelseite der nächsten "Charlie Hebdo" ist Satire, wie sie sein sollte.

 Die nächste "Hebdo"-Auflage erscheint mit einer weiteren Mohammed-Karikatur auf der Titelseite. Der Prophet hält ein Schild mit der Aufschrift "Ich bin Charlie" hoch.

Die nächste "Hebdo"-Auflage erscheint mit einer weiteren Mohammed-Karikatur auf der Titelseite. Der Prophet hält ein Schild mit der Aufschrift "Ich bin Charlie" hoch.

Foto: dpa, pt

Die gute Nachricht ist: Eine Figur, die den Propheten Mohammed darstellen soll, ziert auch die erste Ausgabe der "Charlie Hebdo" nach dem Terrorangriff mit insgesamt 17 Toten. Die noch bessere Nachricht ist: Diese Karikatur ist nicht provokant um der Provokation willen. Sie stachelt nicht auf zu einem islamkritischen Überbietungswettbewerb. Sie zeigt nichts Krasses, weder Blut noch Bomben, keine Fäkalien und auch keine sexuellen Provokationen, wie es das "Titanic"-Magazin einst mit einem Penislängenvergleich der Religionen tat.

Sie ist fast subtil, vereint eine maximal harmlose Darstellung mit maximaler inhaltlichem Effekt. "Alles ist vergeben" ätzen die Satiriker zum gewaltsamen Tod ihrer Kollegen und Freunde, Polizisten und Passanten, Christen, Atheisten, Juden und Muslime — wegen einer Träne und einem der vieldebattierten "Je suis Charlie"-Schilder.

Das ist die Satire, die wir meinen, wenn wir sagen, dass Satire sein muss.

Und sie muss sein dürfen.

Jeder muss jeden kritisieren dürfen

Die Stacheln der Satire muss jeder aushalten. Jeder Politiker, jeder Prominente, jeder Wirtschaftsboss, jeder Vertreter und jeder Anhänger jeder Religion. Diese Toleranz ist eine Kernerrungenschaft menschlicher Zivilisation, identisch mit dem Grenzbereich der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit. Mächtige Interessenten daran, sie zu beschneiden, gab und gibt es zuhauf. Entsprechend entschlossen muss sie deshalb immer wieder eingefordert werden.

Das hat bei den Alten Griechen und Römern geklappt, im Mittelalter gegenüber dem Spott von Walther von der Vogelweide, in der Aufklärung bei den Worten Voltaires, in der Neuzeit mit Charlie-Chaplin-Filmen, "South Park" und den "Simpsons", Tucholsky-Büchern und dem "Titanic"-Magazin.

In den 2010er Jahren kommen die schärfsten, ätzendsten und oft auch klügsten deutschsprachigen Beiträge zum Zeitgeschehen häufig aus einer Ein-Mann-Redaktion in Fürth: Stefan Sichermann alias "Der Postillon" hat auf den Terror gegen die Kunstfreiheit eine ebenso sarkastische, kluge Antwort gefunden wie "Charlie Hebdo":

Terroristen haben gewonnen: Wir sagen nicht, welchem Propheten dieser haarige Arsch gehört ... http://t.co/ZY6Mr2phuf pic.twitter.com/kSfFC0b8A7

Jeder muss jeden kritisieren dürfen. Ohne Aber.

Niemand fordert Mohammed-Karikaturen in Mekka

Das bedeutet allerdings nicht das Ende der Empathie. Und schon gar nicht erstreckt sich die Zumutung, die sein dürfen muss, auf einen Zwang zum Ansehen.

Niemand fordert das Recht ein, Mohammed-Karikaturen in Mekka zu plakatieren oder in Moscheen zu verteilen. Doch jeder muss welche zeichnen dürfen. Dafür muss sich dann wiederum jeder Künstler auch Kritik stellen — aber Kritik funktioniert nicht per Kalaschnikow.

Die westlichen Gesellschaften hatten weitestgehend darauf verzichtet, den Islam zum Objekt von Satire zu machen — im Gegensatz zu Christentum, Kapitalismus und allen anderen Weltanschauungen. Teils aus echter Rücksichtnahme, teils aus nackter Angst vor den Folgen von Zuwiderhandlung.

Dieses Experiment ist gescheitert.

Der Angriff auf "Charlie Hebdo" hat die ganze Welt aus dem seligen Winterschlaf in einen neuen Kulturkampf katapultiert. Nicht zwischen Islam und Christentum, Morgen- und Abendland, auch wenn das Radikale aller Art liebend gern so hätten. Sondern schlicht zwischen denen, die ertragen, dass andere sagen, schreiben und zeichnen, wonach ihnen der Sinn steht. Und denen, die diese Sprecher, Schreiber und Zeichner mundtot sehen wollen, im Zweifelsfall auch ganz tot — und entsprechend aktiv werden, mit Schwertern oder Schnellfeuergewehren.

Ceci n'est pas une religion. pic.twitter.com/5W6kCf72jx

Deshalb ist es leider wieder einmal nötig zu erklären, was Satire ist, was nicht, und warum sie so wichtig ist.

Ob Satire zu weit geht, entscheiden Gerichte

Satire ist das künstlerische Anprangern von Missständen durch überspitzte Debattenbeiträge. Satirische Worte und Bilder können intelligent und subtil sein, aber auch allzu plump geraten, geschmacklos, verletzend. Schützenswert allerdings sind sie alle, per Definition — solange sie gesellschaftliche Realitäten kommentieren, also ein Anliegen haben, das über Provokation als Selbstzweck hinausgeht.

Satire dürfe alles, hat Kurt Tucholsky gesagt, doch das stimmt nicht mehr, sobald Satire bloß Deckmantel ist für Hetze. Das aber wird ja bereits gesetzlich beschränkt und verfolgt. Wer Satire von Hetzern missbraucht sieht, hat in einem Rechtsstaat wie unserem das Recht, Gerichte anzurufen, wie es im Fall des angeblich zu islamkritischen Kabarettisten Dieter Nuhr geschah (das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt).

Niemand aber hat das Recht, unter keinen Umständen, diejenigen physisch zu verletzen, die mit ihren Worten und Bildern religiöse oder sonstige Gefühle verletzt haben. Denn die Option wegzusehen steht jedem offen. Und dass Satire beim Hinsehen schmerzt, ist gewollt. Sie zielt mit Absicht mitten in die Magengrube statt nur aufs Zwerchfell. Doch Satiriker haben selten Lieblingsziele. Ihre Berufsehre gebietet Überparteilichkeit: Sie kritisieren alles. Ausnahmslos. Dieses Recht müssen wir verteidigen.

"Charlie Hebdo" hat den Islam kritisiert, ja. Aber auch den Katholizismus. Und das Judentum. Und ganz besonders Islamhasser, rechte Rattenfänger wie jene des "Front National", die sich schon auf dem Rücken der Zeichner zu profilieren versuchten, bevor deren Leichen kalt waren.

Die Satire blühte nur in Reservaten

Im Netz erlebt die Satire eine Blütezeit. Offline allerdings wurde sie zuletzt kaum verteidigt. Stattdessen wurde die Aussage des Grundgesetzes zur Meinungsfreiheit schleichend relativiert. "Eine Zensur findet nicht statt", heißt es da. Nach dem 11. September 2001 fand sie allerdings sehr wohl statt. Dort, wo sich die anarchische, kleine Welt der Satire mit den größeren, hochoffiziellen von Journalismus und Politik überlappt. Selbstverordnet in vorauseilendem Gehorsam.

Weil 2004 der niederländische Künstler und Berufsprovokateur Theo van Gogh von einem Islamisten ermordet wurde. Weil seit 2007 der dänische Karikaturenzeichner Kurt Westergaard unter Polizeischutz steht; laufend muss er seinen Wohnsitz wechseln. Weil bei Protesten gegen dessen provokante Karikaturen des Propheten Mohammed zuvor mehrere Dutzend andere Menschen in aller Welt getötet worden waren.

Die Einschläge kamen näher. Und durch unsere Angst davor wurde die jahrtausendealte Tradition der Toleranz von Satire akut bedroht, erstickt von Selbstzensur. Karnevalszüge, winzige Programmfenster im Fernsehen und eben das Internet wurden zu Reservaten, den einzigen Enklaven der Satire.

Offline wurde 2006 aus Terrorangst die Oper Idomeneo abgesetzt und erst nach massiven Protesten doch gezeigt, Ende 2014 geschah dasselbe mit der Nordkorea-Satire "The Interview". Nur zwei von vielen Beispielen.

Salman Rushdie lebt. (Noch?)

Fast wundert man sich, dass Salman Rushdie noch lebt; auf den indisch-britischen Autoren ist seit 26 Jahren ein islamistisches Todesurteil samt Kopfgeld ausgesetzt. 3,3 Millionen Dollar. Wegen Gotteslästerung.

Feinde der Freiheit wollen die Botschaft verbreiten: Wer islamkritische Kunst macht, muss mit dem Tod rechnen. In der Redaktion von "Charlie Hebdo" wurde diese Drohung nicht zum ersten Mal wahr gemacht (Wer weiß schon um das Ausmaß der Repressionen gegen kritische Künstler in Teilen der muslimischen Welt?). Aber so sichtbar, dass niemand mehr leugnen oder relativieren kann, was passiert.

Tatsächlich aber müssen wir uns nicht zwischen Satire-Selbstzensur und Tod entscheiden. Im Gegenteil: Wenn wir die Satire nicht verteidigen, geben wir unsere Werte auf und beschwören den Tod unserer freien Gesellschaft herauf. "Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen", hat George Orwell gesagt.

"Freiheit oder Tod!" heißt "Satire oder Tod!"

Tyrannen haben uns zu allen Zeiten vor die Wahl gestellt:

Sklaverei oder Tod.

Sozialismus oder Tod.

Nazi-Ideologie oder Tod.

Verfechter der Demokratie haben diesen Slogan ins Gegenteil verkehrt: "Freiheit oder Tod!" skandierten die Massen in ungezählten Unabhängigkeitskämpfen. Gemeint war damit immer auch die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit. Gemeint war auch: Recht auf Satire oder Tod.

Wir hatten gehofft, diese Entscheidung nie treffen zu müssen, aber die Macher von "Charlie Hebdo" wurden dazu gezwungen. Nun sind sie tot. Und viele Fragen offen.

Die Wichtigste ist, ob ihr Tod vergebens war.

Dieser Text ist zuerst in der Sonntagsausgabe der Rheinische Post App erschienen.

(tojo)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort