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Verein "AusGezeichnet" Säureopfer Vanessa Münstermann zeigt ihr Gesicht

Hannover · Vanessa Münstermann ist ein Kämpfertyp: Vor einem Jahr verätzte der Ex-Freund sie mit Schwefelsäure. Doch die 28-Jährige will sich nicht verstecken. Sie gründet einen Verein, der Menschen mit einem ähnlichen Schicksal helfen soll.

"AusGezeichnet": Säureopfer Vanessa Münstermann versteckt sich nicht
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Säureopfer Vanessa Münstermann versteckt sich nicht

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Foto: dpa, jst axs

"Two Face" hat sie sich Vanessa Münstermann vor kurzem in ihr Dekolleté tätowieren lassen. Nach einem Säureangriff ist ihre eine Gesichtshälfte seit einem Jahr mit Narben gezeichnet. "Ich verkrafte es für meine Psyche besser, wenn ich mein Gesicht in zwei Hälften teile", sagt die 28-Jährige. "Ich sehe mein Gesicht nicht als eins." Neulich habe sie sich einen "Batman"-Film angeschaut, der Bösewicht "Two-Face" habe sie an ihr eigenes Aussehen erinnert.

Vor einem Jahr hatte der Ex-Freund die Kosmetikerin in Hannover mit Säure übergossen. Ihre linke Gesichtshälfte war eine einzige Fleischwunde, als sich Vanessa Münstermann nach dem Aufwachen aus einem künstlichen Koma im Krankenhausbett für örtliche Zeitungen fotografieren ließ. Das war als Botschaft zu verstehen: Ich verstecke mich nicht, mich kriegst du nicht klein. Seitdem wurde sie mehr als 20 Mal operiert. Wie bewältigt sie den Alltag ein Jahr nach der Tat? Kann sie arbeiten, hat sie Ideen für die Zukunft?

Treffen mit Vanessa in einer Büroetage im Zentrum von Hannover. Hier plant sie gerade ein Zukunftsprojekt: Mit einem neuen Verein will sie Menschen mit ähnlichem Schicksal helfen. Der Name "AusGezeichnet" steht für ihre hochfliegende Idee: Auch wenn sie nach der Attacke des Ex-Partners für ihr Leben gezeichnet ist, möchte sie die entstellenden Narben ins Positive umkehren.

Die junge Frau mit dem grau gefärbten Haar wirkt quirlig, steckt voller Energie. Sie trägt einen kleinen Ring in der Nase und einen Ohrring. Ihr zweites Ohr wurde fast weggeätzt. Das linke Auge ist trübe, das Lid hängt herunter. Die Säure war über das Gesicht geflossen und hat bis zum Oberkörper wulstige Narben und Rötungen hinterlassen.

Häufig haben Opfer nach einem Unfall oder einem Verbrechen wie diesem einen Filmriss — das ist auch ein psychologischer Schutzmechanismus.
Vanessa dagegen kann sich an alle Einzelheiten erinnern. Es war Montag, der 15. Februar, gegen 5.30 Uhr, in Hannover-Leinhausen: Wie jeden Morgen geht die junge Frau früh mit ihrem Hund, der Beagle-Dame Kylie, aus dem Haus.

Die Routine kennt ihr Ex-Freund Daniel, der ihr im Dunkeln auflauert. In seiner Jackentasche hält er in einem Glas abgefüllten industriellen Rohrreiniger, eine sogenannte Rohrgranate, griffbereit. Der Sicherheitshinweis auf der Verpackung ist eindeutig, vor schweren Haut- und Augenschäden wird gewarnt.

Die Attacke kommt für die junge Frau vollkommen unvermittelt, alles geht ganz schnell. "Er kam aus dem Gebüsch, ich hatte keine Chance wegzurennen", erinnert sich Vanessa. "Ich habe eine einstweilige Verfügung gegen dich", lügt sie, um den Ex-Freund zu vertreiben. Doch da kippt der ihr schon die Schwefelsäure ins Gesicht.

Eine Frau hört ihre Schreie, eilt zur Hilfe. "Fasst mich nicht an", ruft sie instinktiv und spuckt die Säure aus. Im Krankenwagen fällt sie in Ohnmacht.

Nach dem Aufwachen aus einem zwölftägigen Koma wird Vanessa zunächst der Spiegel verweigert. In den Scheiben der Intensivstation sieht sie dennoch ihr eigenes Bild. Ihr Gedanke, als sie sich zum ersten Mal erblickt? "Oh Scheiße!", mehr nicht.

Die Medikamente, mit denen sie vollgepumpt ist, lindern die Schmerzen und dämpfen die Gefühle. Das Ohr fehlt, ein Auge ist fast komplett zerstört, der Mund hängt schief. Das schockierende Foto aus dem Krankenhaus mit dem blutig verkrusteten Gesicht steht immer noch auf ihrer Facebook-Seite.

Nach Einschätzung der Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes" ist ein solches Säure-Attentat in Deutschland eine Seltenheit. Es komme eher in Bangladesch und Indien vor, sagt Referentin Birte Rohles. Die Attentate würden vor allem von zurückgewiesenen Männern begangen.
"Die Täter wollen die Frauen damit ihr Leben lang zeichnen, ihnen eine Zukunft verbauen. Auch wollen sie damit häufig verhindern, dass die Frau eine neue Beziehung eingehen wird."

Und wie denkt Vanessa über den Täter? "Er ist ein traumhaft schöner Mann", sagt die 28-Jährige über Daniel F. "Wenn ich das Aussehen mal weglasse, hätte ich viel früher sehen müssen, dass der total bekloppt ist." Er war wegen Gewalt- und Drogendelikten vorbestraft.

Doch nach dem Kennenlernen in einem Chat-Forum im Sommer 2015 führte das Paar zunächst eine "Bilderbuchbeziehung". So schilderte es Vanessa als Nebenklägerin in dem Gerichtsprozess gegen den Angreifer.
Beide waren Adoptivkinder, das verband die zwei. Doch bald häuften sich Streit und Spannungen. Er fand sie eifersüchtig und kontrollsüchtig. Sie warf ihm Flirts mit anderen Frauen vor.

Die Situation eskalierte. Er terrorisierte sie telefonisch, beleidigte sie über soziale Medien. Sie zeigte ihn am 14. Februar 2016 bei der Polizei wegen Stalkings und Gewalt an. Beamte suchten ihn für eine sogenannte Gefährderansprache auf. "Sie haben sich rächen wollen", sagte der Richter zum Motiv der unfassbaren Tat am Tag nach dem Besuch der Polizisten beim Ex-Freund.

Am 25. August wurde der 33-Jährige im Landgericht Hannover für seine Säureattacke zu zwölf Jahren Haft wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Seit dem Angriff musste Vanessa Dutzende Eingriffe und Behandlungen über sich ergehen lassen. Bis ans Lebensende wird sie körperlich und seelisch unter den Folgen leiden. Und sie hat Angst um ihr Leben, sollte sie ihrem Peiniger irgendwann wieder begegnen. "Mir graut es davor, wenn er aus dem Gefängnis rauskommt", sagt sie.

"Mein größter Wunsch ist, dass er nicht mehr an mich rankommt." Ein solches Gefühl der Bedrohung kann ein Opfer in tiefe Depressionen stürzen. Vanessa jedoch war schon immer eine Kämpferin.

Sie zieht sich nicht zurück wie andere Menschen mit einem entstellten Gesicht - sei es in Folge von Krankheit, Unfall oder Verbrechen.
Vanessa will sich weder von Schmerzen noch von negativen Reaktionen einschränken lassen.

Deshalb hat sie den Jahrestag des Anschlags gewählt, um ihren Verein "AusGezeichnet" zu starten. Um es deutlich zu machen, dass sie schnell vorwärts gehen möchte. Sie will Opfern in ähnlichen Situationen am liebsten schon auf der Intensivstation helfen. Auch für Menschen, die von Geburt an entstellt sind, möchte sie Ansprechpartnerin sein und sie ermutigen, mit ihrem Schicksal offensiv umzugehen.

Pro Jahr erleiden in Deutschland nach Angaben des Selbsthilfeverbandes Cicatrix rund 700.000 Menschen eine Verbrennung, dazu zählen auch Opfer von Strom und Säure. Etwa 18.000 von ihnen müssen im Krankenhaus, 3000 in einem Brandverletztenzentrum behandelt werden.

Viele Verletzte ziehen sich zunächst zurück, sagt die Präsidentin von Cicatrix, Eva Aumann. "Man fühlt sich so, als ob man der einzige Betroffene sei." Auch die Vorsitzende des Bundesverbandes für Brandverletzte, Petra Krause-Wloch, sagt: "Unsere Gesellschaft toleriert nur ganz, ganz schwer andersartige Menschen." Viele Menschen verstecken sich, wie sie sagt, nach einer solchen Verletzung. Sie gehen zum Beispiel nur im Dunkeln spazieren.

Vanessa Münstermanns Botschaft ist dagegen: "Seht her, sprecht mich an!" Für den Termin vor der dpa-Kamera hat sie knallroten Lippenstift gewählt und die Narben mit Theaterschminke abgedeckt. Die junge Frau strahlt von innen. Das Gelächter einer Gruppe von etwa zehnjährigen Jungen im Bus, das sie erlebt hat, sei eine Ausnahme.

Gerade Jüngere gingen auf sie zu und machten ihr Komplimente. "Ich hätte selbst nicht gedacht, dass ich nach einem Jahr wieder so aussehe", sagt die 28-Jährige. Es gebe aber immer noch Tage, da wolle sie einfach nur die Bettdecke wieder über den Kopf ziehen.

Nur ungern erinnert sie sich an die zwölf Tage im künstlichen Koma - wegen der Alpträume sei das die schlimmste Zeit in ihrem Leben gewesen. Als sie auf der Intensivstation des Brandverletztenzentrums der Medizinischen Hochschule Hannover aufwachte, saßen ihre besten Freundinnen an ihrem Bett. Der Unterstützerkreis "We love Vanessa" hatte sich gegründet. Andere Brandopfer mussten nach Vanessas Eindruck in der Klinik fast alleine klarkommen. Ihnen möchte sie helfen. Die meisten Brandverletzten hatten Unfälle im Haushalt, unter ihnen sind nur wenige Gewaltopfer.

Insgesamt wurden aber mehr als 104.000 Frauen in Deutschland 2015 Opfer von Partnergewalt, mit oft lebenslangen Folgen für Körper und Seele, heißt es bei "Terre des Femmes". Der Opferschutz müsse sich verbessern, fordert Expertin Rohles. "Häufig kann die Polizei nur tätig werden, wenn bereits etwas passiert ist." Bei massiver Gefährdung müsse es aber möglich sein, wie in einem Zeugenschutzprogramm unter neuer Identität unterzutauchen, wenn Täter sich nicht von Kontaktsperren und Platzverweisen abschrecken ließen.
In Baden-Württemberg gebe es ein solches Modellprogramm.

Vor dem Anschlag arbeitete Vanessa Münstermann als Angestellte in der Tankstelle ihres Stiefvaters und ihrer Mutter. Im Moment lebt sie noch von Krankengeld und setzt sich mit der Rentenversicherung auseinander. "Natürlich ist die Existenzangst da", sagt sie. "Ich bin wirtschaftlich wertlos."

Zwölf Jahre lang müsse sie sich wahrscheinlich noch immer wieder neu operieren lassen. Im Moment hat sie massive Probleme mit dem fast komplett zerstörten Auge: Sie sieht nur noch etwa 15 Prozent, die Wimpern wachsen nach innen.

Und der Täter, zeigt er Reue? Im Prozess war dies kaum der Fall, eher stellte er sich selber als Opfer dar, der Richter bescheinigte ihm in der Urteilsbegründung großes Selbstmitleid. "Ich möchte keine Revision einlegen, in anderen Ländern hätte ich die Todesstrafe erhalten", sagte F. im Gerichtssaal. Später bat er den Richter gar per Brief um eine höhere Strafe, wollte 15 Jahre hinter Gitter.

Bald darauf reichte sein Verteidiger Max Marc Malpricht aber ein begründetes Revisionsgesuch ein. Die Strafe sollte wie bei ähnlichen Fällen maximal acht bis neun Jahre betragen, sagte der Jurist. Über die Revision hat der Bundesgerichtshof noch nicht entschieden.

Daniel F. sitzt im Gefängnis in Hannover. "Er schreibt mir Briefe, von wegen er liebt mich noch", sagt Vanessa. "Er schreibt die Briefe nicht in dem Sinn, es tut mir leid, dass ich dir das angetan habe, sondern als ob wir einen Autounfall hatten. Nach dem Motto: 'Wir müssen da jetzt durch'." Der Anwalt sagt, von den Briefen wisse er nichts.

Vanessas größter Wunsch ist, dass ihr Ex-Freund sie vergisst. Besonders vor Operationen, deren Narkosen sie schlecht verträgt, kommen Hassgefühle in ihr auf. "Ich sitze dann in meinem Zimmer und denke, er hat zwar Gitter davor, aber ich kann jetzt auch nicht einfach rausstiefeln und sagen, ich gehe jetzt shoppen. Er hat mich mit eingesperrt - und wenn es nur in meiner eigenen Haut ist."

Im Krankenhaus plagte Vanessa die Angst, nie wieder einen Mann abzukriegen, alleine zu sterben. Doch dann lernte sie schon in der Reha einen jungen Mann kennen, weitere Flirts folgten.

"Natürlich kann ich auch wieder Gewalt in der Beziehung erleben. Aber wenn ich mich einschränken würde, hätte Daniel das geschafft, was er wollte", sagt die 28-Jährige. Im Moment sei der Verein ihr Baby. Aber in fünf Jahren würde sie gerne wieder bei ihren Eltern ausgezogen sein, die ihr nach dem Anschlag das Dachgeschoss des Hauses zur Verfügung stellten. "Vielleicht ein Partner, der mich so akzeptiert wie ich bin, vielleicht auch mal Familie gründen, so schwierig sich das auch anhört mit mir - das wäre schön!"

(rent/dpa)
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