Presse zu Istanbul "Verunsicherung hat die ganze Welt ergriffen"
"Stuttgarter Zeitung": Die Deutschen haben auf die Gefahren in der arabischen Welt längst reagiert und ihre Urlaubspläne angepasst. Eine Erhebung zeigt, dass sich die Bürger ihre Reiselust wegen der weltpolitischen Lage nicht nehmen lassen. Es scheint, als ob die Terrorgefahr als Teil des allgemeinen Lebensrisikos akzeptiert wird. Denn machen wir uns nichts vor: Die Verunsicherung hat die ganze Welt ergriffen.
"Der Tagesspiegel": Die Blutspur des Islamischen Staates und von Al Qaida ist überall da zu finden, wo sich Touristen aufhalten. Opfer kann jeder werden, ob Muslim oder Christ. Der Terror kennt keine Präferenzen, er trifft Einheimische und Touristen, Alte und Junge. Das Ungezielte ist geradezu ein Charakteristikum islamistischer Gewalt, denn was sie mit ihrer Blindwütigkeit erreichen will, ist der Zusammenbruch der staatlichen Strukturen überall da, wo Bomben und Selbstmordanschläge Unbeteiligte treffen.
"Leipziger Volkszeitung": Für die Türkei steht jetzt viel auf dem Spiel: Bislang galt das Land als interessante und vor allem stabile Brücke in die arabische Welt - attraktiv für Urlauber und Investoren gleichermaßen. Jetzt wird die Türkei wegen der geografischen Nähe zu den Krisenherden in Syrien und Irak und wegen der vielen ungelösten innenpolitischen Themen von großen Problemen geradezu überrollt. Die Urlauber zögern, die internationalen Geldgeber wandern ab. Das Land verliert Schritt für den Schritt den inneren Zusammenhalt - und es sieht nicht so aus, als ob Präsident Erdogan eine schlüssige Antwort darauf hat.
"Frankfurter Allgemeine Zeitung": Der Anschlag vor der Blauen Moschee in Istanbul galt zwei Zielen: der Türkei und Deutschland. Es kann kein Zufall gewesen sein, dass der Attentäter vier Tage nach Beginn des Einsatzes deutscher Tornado-Aufklärungsflugzeuge in Istanbul eine Gruppe deutscher Urlauber und sich selbst in den Tod gerissen hat. Der Anschlag galt auch der Türkei. Denn die Flugzeuge starten von der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik, und die Türkei macht seit jüngster Zeit ernst mit der Ankündigung, keinen Nachschub mehr für den sogenannten "Islamischen Staat" (IS) über die Grenze nach Syrien zu lassen. Terror in den Städten der Türkei, Krieg im Südosten des Landes - die Spirale der Gewalt im Land dreht sich seit einem halben Jahr immer schneller.
"Badische Neueste Nachrichten": Fest steht, dass der Syrien-Krieg gestern den Bosporus erreicht hat. Der IS, der sich die Eroberung Istanbuls auf die Fahnen geschrieben hat, fordert den türkischen Staat heraus. Spätestens seit der Bombe von Sultanahmet muss jedem türkischen Politiker klar sein, dass der IS eine tödliche Gefahr für die Türkei bildet.
"Neue Osnabrücker Zeitung": Der Anschlag auf deutsche Touristen in Istanbul ruft Entsetzen hervor. Man fragt sich: Was kommt als Nächstes? Wie bei den Anschlägen von Paris und der Terrorgefahr in Brüssel entsteht der Eindruck: Es hätte jeden treffen können, der unterwegs ist. Ein Beleg für die große Bedrohung durch die Terrormiliz IS. Und das Ganze hat nichts mit dem Islam zu tun? Die allermeisten Muslime distanzieren sich jetzt wieder, und das ist glaubhaft. Aber enden werden die Selbstmordattentate erst, wenn es diese merkwürdige Paradiesvorstellung nicht mehr gibt, wonach ein Mann, der Menschen mit Sprengstoff tötet, auch noch mit 72 Jungfrauen belohnt wird und nicht mit der Hölle.
"Neue Presse": Schon wieder ein Terror-Anschlag, schon wieder starben unbeteiligte Menschen, deren einzige Schuld darin bestand, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. In diesem Fall war darunter auch eine deutsche Reisegruppe, die sich bei milden Temperaturen und Sonnenschein die weltberühmten Sehenswürdigkeiten in der historischen Altstadt Istanbuls anschauen wollte. Mit ihrer Bombe zielten die islamistischen Terroristen auf das historische Herz einer Stadt, die zum Teil in Europa, zum Teil in Asien liegt und als weltoffen und multikulturell, als lebenswert gilt - sie zielten, wie in Paris, auf eine offene Geisteshaltung und ein positives Lebensgefühl. Und auch auf eben diesen Tourismus, der für die wirtschaftlich angeschlagene Türkei eine immens wichtige Einnahmequelle ist, zielten die Terroristen.
"Mannheimer Morgen": Der Selbstmordanschlag auf das Touristenzentrum in Istanbul hat die Türkei mitten ins Herz getroffen und viele Menschen getötet, die einfach nur Urlaub machen wollten. So zynisch es klingen mag: Zwar hat es in letzter Zeit bereits einige Terror-Anschläge in der Türkei gegeben, die sogar mehr Opfer forderten. Aber diesmal sind es keine Einheimischen, sondern Ausländer, die sterben mussten. Und da verhält es sich wie bei den jüngsten Attentaten von Islamisten in Ägypten oder Tunesien: Plötzlich schaut die ganze Welt auf diese Länder. Gestern packten schon Touristen in Istanbul ihre Koffer. Viele werden so schnell nicht wieder zurückkommen, einige vielleicht für immer wegbleiben. Damit ist für die Türkei der absolute GAU eingetreten. Die Reisebranche gehört zu den wichtigsten Einnahmequellen des Landes. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch das türkische Militär im November bleiben schon die vielen Touristen aus dem Putin-Land weg. Eine weitere Schwächung der Branche wäre für die Türkei gefährlich.
"Badische Zeitung": Um einer solch großen Bedrohung zu begegnen, bedürfte es zwingend einer Koalition aller Länder, die im Visier dieser menschenverachtenden Extremisten sind. Doch leider sind sich diese viel zu uneins, um zu einer gemeinsamen Strategie gegen die Terroristen zu finden. Die Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien rangeln um die Vorherrschaft in Nahost, obwohl der IS beiden Länder den Krieg erklärt hat. Ganz zu schweigen von der Türkei, die sich im Kampf mit den Kurden aufreibt, statt ihre Aufmerksamkeit auf den IS zu richten. Auch die westlichen Staaten und Russland sind so zerstritten über Syrien, dass keine Einigung in Sicht ist. Die punktuellen Angriffe einzelner Staatenbündnisse reichen aber nicht aus, um die Terrormilizen wirksam zu bekämpfen.
"Saarbrücker Zeitung": Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan sagen, die Bedrohung durch den IS sei auch eine Folge eines Schmusekurses, den Ankara zumindest eine Zeit lang fuhr, um die Extremisten von just solchen Gewalttaten abzuhalten. Ob Schmusekurs oder nicht: Fest steht, dass der Syrien-Krieg den Bosporus erreicht hat. Der IS fordert den türkischen Staat heraus. Spätestens seit der Bombe von Sultanahmet muss jedem türkischen Politiker klar sein, dass die Terrormiliz eine tödliche Gefahr für die Türkei bildet. Möglicherweise ergibt sich aus dem Schock des Anschlags aber auch eine neue Bereitschaft Ankaras, enger mit den westlichen Verbündeten zusammenzuarbeiten. Und man kann darauf hoffen, dass die Türkei und ihre Partner jetzt energischer als zuvor gegen den IS vorgehen werden.