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Die Situation in Tokio Viele Menschen planen die Flucht nach Süden

Tokio (RPO). Gespenstische Leere herrscht auf den Straßen Tokios. Nach dem verheerenden Erdbeben vom Freitag und den Neuigkeiten von den Atomkraftwerken im Norden bereiten sich die Menschen auf weitere Erdstöße und den nuklearen Super-GAU vor. Sie kaufen Vorräte, Jodtabletten, beobachten die Nachrichten – und planen die Flucht in Richtung Süden.

Banges Warten in Tokio
15 Bilder

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Tokio (RPO). Gespenstische Leere herrscht auf den Straßen Tokios. Nach dem verheerenden Erdbeben vom Freitag und den Neuigkeiten von den Atomkraftwerken im Norden bereiten sich die Menschen auf weitere Erdstöße und den nuklearen Super-GAU vor. Sie kaufen Vorräte, Jodtabletten, beobachten die Nachrichten — und planen die Flucht in Richtung Süden.

Den ganzen Tag über verfolgte sie angespannt die Nachrichten im Fernsehen und die Entwicklung in den Kernkraftwerken in Fukushima — jetzt hat Miyuki Gericke (30) den Entschluss gefasst: Mit ein paar Freunden macht sich die Angestellte aus dem Tokioter Vorort Chofu auf in Richtung Osaka, rund 500 Kilometer weiter südlich. Die Bedrohung aus dem Norden scheint einfach zu groß. Im Gepäck hat sie nur das Nötigste, auch Helm und Taschenlampe sind dabei. Dabei will sie nach der unruhigen Nacht in der Wohnung eines Kollegen eigentlich nur eines: schlafen.

"Mir ist schwindelig und alles wackelt noch", sagt die 30-Jährige. "Und ich weiß nicht, ob das real ist oder nur Einbildung wegen der ständigen Nachbeben." Zwar scheint sich die Erde ein wenig beruhigt zu haben, aber ab und zu spüren die Tokioter trotzdem noch Erschütterungen. Webcams in den geschäftigen Zentren Shibuya, Shinjuku und Ueno zeigen keine Bilder der üblichen Menschenmassen auf den Straßen, sondern nur von vereinzelten Fußgängern.

Als das Beben am Freitag zuschlug, trank Miyuki Gericke mit ihrem Chef gerade auf einer Messe in der Bucht Tokios eine Tasse Kaffee. Während alle nach draußen rannten, rettete sie sich mit ihrem Chef unter einen Tisch. "Ich dachte, das war es jetzt", sagt die Kölnerin mit der japanischen Mutter, die seit über zwei Jahren in Japan lebt. Als das Beben nachließ, suchten sie und ihr Chef in einem nahegelegenen Hotel Zuflucht, später dann gingen sie zu Fuß in die nahe gelegene Wohnung eines Kollegen. Dort verbrachte sie die Nacht.

Aber an Schlaf war kaum zu denken: "Mir klopfte so das Herz, das ich nicht einschlafen konnte", sagt Miyuki Gericke. "Und ständig gab es Nachbeben." Auf dem Nachhauseweg am nächsten Mittag bot sich ihr ein ungewohntes Bild: Bahnhöfe und Züge waren leer, viele Geschäfte geschlossen, auch das bekannte große Kaufhaus "Parco" an ihrem Wohnort Chofu. Die Regale der Supermärkte und Convenience Stores, die geöffnet hatten, waren wie leergefegt.

Zuhause angekommen, machte Miyuki Gericke erst mal Bestandsaufnahme, räumte Regale ein, packte eine Notfalltasche, kaufte einen Helm und Taschenlampe. Im Fernsehen war mittags plötzlich von Tschernobyl die Rede. Dann die ersten Überlegungen: Ist man sicher in dem Gebäude, in dem man lebt? Ist Tokio noch sicher? Soll man Japan ganz verlassen oder in Richtung Süden ziehen?

Von ihrer Großmutter und anderen Verwandten, die in der vom Erdbeben besonders schwer getroffenen Präfektur Iwate leben, hat sie noch immer nichts gehört. Sie und ihre Familie in Deutschland versuchen seit gestern, Kontakt aufzunehmen. Doch mit dem Telefon kommen sie nicht durch. Miyuki Gericke versucht, zu rationalisieren: "Sie wohnen im Landesinneren, nicht an der Küste, wo der Tsunami zugeschlagen hat. Also sollte eigentlich alles okay sein", sagt sie.

Andererseits sei ihre Großmutter schon sehr alt und vielleicht nicht mehr in der Lage, schnell Schutz zu suchen. "Man weiß es einfach nicht", sagt die 30-Jährige. Wenigstens von ihrer Cousine in der Stadt Sendai habe sie ein Lebenszeichen bekommen. Und von einem Freund aus Sendai, der derzeit versuche, sich nach Tokio durchzuschlagen. Genaueres weiß sie aber nicht. Die Unruhe bleibt.

Maya Mochizuki (31) will in Tokio bleiben. "Auch wenn hier Endzeitstimmung herrscht." Zwar seien alle relativ ruhig, aber trotzdem deckten sich die Menschen mit Notfallvorräten ein. Mit ihrem Mann und ihrer zweijährigen Tochter Noe lebt die Japanologin im südlich des Stadtzentrums gelegenen Bezirk Minato und hat sich am Mittag schon mit Taschenlampen, Kerzen und Streichhölzern eingedeckt — für den Fall, dass der angekündigte Stromausfall kommt.

Wie die meisten Japaner verbringt sie den Tag vor dem Fernseher. Gerade wurde vor Massen-Rundmails auf Handys gewarnt, die falsche Nachrichten von drohendem sauren Regen verbreiten. "Die werden von irgendwelchen Leuten verbreitet, die Panik schüren wollen", sagt Maya Mochizuki. Ständig zeigt das Fernsehen Bilder von der Tsunamiwelle vom Vortag, nur einzelne Rettungsaktionen in den betroffenen Gebieten im Norden sind zu sehen. Grundsätzlich aber versuchten die Medien, die Menschen ruhig zu halten, Nachrichtensprecher seien sehr sachlich. "Zum Glück zeigen sie keine Leichen", sagt die 31-Jährige. "Dafür viele Interviews mit Experten."

Kenji Fuchihara (31), seine Freundin und zwei Kinder (11 Monate und 13 Jahre), versuchen im östlichen Tokioter Bezirk Koto Ruhe zu bewahren. Im Fernsehen beobachtet der bei einem Schweizer Unternehmen angestellte Projektmanager die Entwicklung in den Atomkraftwerken. 300 Kilometer weit liegen die beiden entfernt. Nun überlegen er und seine Freundin, in Richtung Süden aufzubrechen, nach Kyoto oder Osaka. "Dann würden noch einmal rund 500 Kilometer zwischen uns und Fukushima liegen." Noch harrt die Familie aus, denn die Windrichtung, so heißt es in den japanischen Medien, würde eine drohende radioaktive Wolke derzeit hinaus auf den Pazifik tragen — nicht in Richtung Tokio.

Ihre Optionen prüft die Familie aber dennoch: Der Flughafen Narita ist geöffnet, das weiß Kenji Fuchihara inzwischen. Nur einige Flüge sind gestrichen. In den Medien und im Internet haben sie von zahlreichen Menschen aus dem Norden gehört, die an die sichere Westküste oder in Richtung Süden fliehen. Dabei wurde der Zugverkehr nur teilweise wieder aufgenommen. "Mit einem vollgestopften Regionalzug wollen wir uns zu viert jetzt nicht auf den Weg machen und dann dort von einem Erdbeben überrascht werden", sagt Kenji Fuchihara. Stattdessen überlege er, spontan ein Auto zu mieten.

Als das Erdbeben am Freitag die Stadt erschütterte, hatte er zufällig einen freien Tag. Mit seiner Freundin brachte er sich im Türrahmen in Sicherheit. "So etwas Heftiges habe ich noch nie erlebt", sagt Kenji Fuchihara. Dann eilten er und seine Freundin zusammen zur Kinderkrippe, um ihren jungen Sohn abzuholen. Die Tochter kam Stunden später mit einer Freundin nach Hause gelaufen.

An diesem Samstag nun versuchen sie Ruhe zu bewahren, sich zu informieren. "Wir sind nicht in Panik, aber haben uns auf einen Notfall vorbereitet", sagt Kenji Fuchihara. Die Luftlöcher für die Klimaanlage haben sie dicht gemacht und viele Liter Wasser eingekauft, genau wie Jodtabletten und Lebensmittel. Den ganzen Tag Fernsehen schauen will er nicht, "ständige aktualisieren sie rechts oben im Bild die Opferzahlen". Man sehe Bilder von weinenden Menschen, deren Familien weggeschwemmt wurden, Menschen, die in Trümmern stehen. Doch von den Rettungsmaßnahmen selbst sei im Vergleich zu Deutschland wenig zu sehen.

Er wisse nur, dass jetzt mehrere Zehntausend Soldaten entsandt worden sein sollen. "Ich glaube, die Behörden wissen nicht, was gerade das Richtige ist", sagt Kenji Fuchihara. "Ob sie zur Evakuierung aufrufen sollen oder nicht."

(RPO)
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