Nach dem Referendum Viele Schotten haben jetzt ein mulmiges Gefühl

Edinburgh · Nach dem Referendum vergießen die schottischen Kämpfer für die Unabhängigkeit bittere Tränen. Zwei Jahre lang haben sie gekämpft, zum Ende hin erfüllt von großer Zuversicht. Umso tiefer sitzt nun die Enttäuschung. Dem Lager der Unabhängigkeitsgegner ist mulmig zumute. Der Frust könnte in Wut umschlagen. Die Angst vor einer tiefen Spaltung des Landes geht um.

Halb Schottland weint - halb Schottland jubelt
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Im Zentrum von Edinburgh steht eine Gruppe junger Unabhängigkeits-Aktivisten im Regen und vergießt bittere Tränen. "Ich bin unglaublich enttäuscht", sagt der 21-jährige Student Iain. "In den letzten sechs Monaten hatten wir Hoffnung auf ein besseres Leben."

Die Hoffnung stirbt am Freitagmorgen kurz nach 6 Uhr: Da steht fest, dass die Mehrheit der Schotten gegen eine Abspaltung von Großbritannien gestimmt hat. "Wir haben alle gedacht, es würde anders ausgehen", sagt die 16-jährige Charlotte Darroch. Sie hat eine schottische Flagge um die Schultern und einen "Yes"-Sticker an der Krawatte der Schuluniform. "Vielleicht war den Menschen nicht klar, wie wichtig das war."

Auch wenn die Abspaltungsgegner am Ende mit gut zehn Prozentpunkten Vorsprung gewannen, wollen die schottischen Nationalisten nicht klein beigeben. "Das ist nicht das Ende der 'Ja'-Kampagne", sagt Darroch. Rikki Maclean, der die ganze Nacht mit Freunden vor dem Fernseher verbracht hat, sieht jetzt den britischen Premier David Cameron in der Pflicht, den Schotten mehr Autonomie zu verschaffen. "Wenn uns diese Macht nicht gegeben wird, wird der Protest anschwellen", sagt der Theatermanager.

Warum Schottland eine ganze Nacht Stimmen auszählte
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Ganz geheuer ist auch dem Lager der Unabhängigkeitsgegner ihr Sieg nicht, die Angst vor einer tiefen Spaltung des Landes geht um. "Hoffentlich gibt es keine Unruhen in den Straßen", sagt der 55-jährige David Drysdale. Wenn London seine Versprechen für mehr Autonomie Schottlands einlöse, "dann wird es hoffentlich gut gehen".

So groß die Sorge vor den möglichen Folgen auch ist, so sehr überwiegen an diesem Morgen Enttäuschung, Schmerz und Agonie. Demokratie kann manchmal wehtun. Auf einer Straße In Edinburgh erfährt das gerade der 21-jährige Lucas McGregor. Er steht im Regen und wirkt verzweifelt. "Das ist so eine Enttäuschung. Wir haben zwei Jahre hiermit verbracht" sagt er und zeigt auf ein "Yes"-Plakat hinter sich. Das Mitglied der Schottischen Nationalpartei und hat in den vergangenen Wochen jede freie Minute in den Wahlkampf gesteckt.

Als die Ergebnisse der 32 Stimmbezirke in den frühen Morgenstunden nach und nach feierlich verkündet werden, haben die "Nein"-Sager deutlich mehr zu jubeln. Nur viermal liegt die Unabhängigkeitsbewegung vorn, am Ende haben die Unionisten eine Mehrheit von 55,3 Prozent. In der Nähe des Regionalparlaments in Schottlands Hauptstadt Edinburgh hat die "Yes"-Bewegung eine Party organisiert - aber nach Feiern ist kaum jemandem zumute. Vereinzelt fließen auf den Straßen und vor den Pubs Tränen.

Solche kuriosen Blüten trieb das Referendum in Schottland
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"Ich bin sehr froh. Ich bin Engländerin und absolut überzeugt davon, dass wir alle zusammen bleiben sollen", sagt dagegen Elizabeth Harris, die in Edinburgh studiert. Die 19-Jährige hat die Nacht im Pub durchgemacht. Im Arm hält sie ihre Kommilitonen Freya Muir, die mit "Ja" gestimmt hat. "Irgendwie bin ich auch erleichtert", sagt Freya verlegen. "Ich hätte es spannend gefunden, unabhängig zu werden. Aber es sieht so aus, als sei die Mehrheit vernünftig gewesen gestern." Ein Mann mit Vollbart hört es im Vorbeigehen und nickt: "Geht mir auch so."

Anderswo macht eine Gruppe junger Männer mit "Yes"-Ansteckern auf den Regenjacken lange Gesichter. Sie seien enttäuscht und außerdem müde nach dieser Nacht. Auch wütend? "Nein, warum das denn?", fragt einer von ihnen. Die Sorge, dass das Land nach dem leidenschaftlichen Wahlkampf tief gespalten sein könnte, treibt viele um in Schottland. Es gab Berichte über Drohungen und Beleidigungen vor allem gegen Verteidiger der Union.

Die Entscheidung fiel eindeutiger als von manchen erwartet, trotzdem bekommen 1,6 Millionen Schotten nun nicht, wofür sie abgestimmt haben - einen unabhängigen Staat. Schottlands unterlegener Regierungschef Alex Salmond forderte dazu auf, das Votum zu akzeptieren.

Wichtige Fakten zu Schottlands Geschichte
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Foto: afp, AB/JR

Wie viel Energie die Gesellschaft in Versöhnung stecken muss, wird sich zeigen - die Abstimmung selbst und das nächtliche Warten auf Ergebnisse in den Pubs und auf Wahlpartys lief jedenfalls friedlicher und freundschaftlicher ab als die meisten Fußballspiele.

Die enttäuschten Schotten wollen nun innerhalb der Union an einer besseren Zukunft arbeiten. Sie hätten klargemacht, dass sie nicht glücklich sind mit der Regierung in London, findet Dermot Barr, der "Yes"-Aufkleber sogar im Gesicht kleben hat und eine blau-weiße Schottland-Fahne über den Schultern trägt. "Alle müssen jetzt den Hintern hochkriegen und das ändern", fordert der 30-Jährige.

Auch Lucas McGregor von der Nationalpartei schaut tapfer nach vorn. "Wir haben eine Bewegung angestoßen, das geht jetzt erst richtig los", glaubt er. Wird es ein weiteres Referendum geben? "Kommt darauf an, was passiert." Die vielen politischen Debatten hätten dem Land auf jeden Fall gut getan. "Ich habe mich meinen Landsleuten noch nie so nah gefühlt. Ganz egal, wie sie abgestimmt haben."

(AFP AP)
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