Zwei Jahre nach dem Massaker in Norwegen Was wurde eigentlich aus Utøya?

Oslo/Düsseldorf · Die Wahnsinnstat des Rechtsextremisten Breivik, der 77 Menschen an einem Tag tötete, hat Norwegen verändert – anders als Breivik es wollte.

Die Wahnsinnstat des Rechtsextremisten Breivik, der 77 Menschen an einem Tag tötete, hat Norwegen verändert — anders als Breivik es wollte.

Bjørn Ihler hat überlebt. Der 22-Jährige war am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya; er wollte Freunde besuchen, die er länger nicht gesehen hatte. Es war ein unbeschwerter Tag. Bis die ersten Schüsse fielen und die Hölle losbrach. Der selbsternannte Kreuzzügler und "Tempelritter" Anders Behring Breivik hatte am Vormittag mehrere Gebäude im Osloer Regierungsviertel in die Luft gesprengt und dabei acht Menschen getötet. Danach fuhr der Rechtsextremist nach Utøya, zum Sommercamp der Sozialdemokraten, wo rund 500 Kinder und Jugendliche ihre Ferien verbrachten. Über eine Stunde lief Breivik ungehindert schießend über die Insel, tötete 69 Menschen. Das jüngste Opfer war 14 Jahre alt.

Knapp ein Jahr nach der Tat wurde der heute 34-jährige Breivik zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Reue zeigte er nie. Seine Morde bezeichnete er als "grausam, aber notwendig". Tränen vergoss Breivik ein einziges Mal — als vor Gericht ein von ihm gefertigtes Video gezeigt wurde, in dem er über seinen "Kampf" gegen die Islamisierung Norwegens faselt.

Für die Überlebenden des Anschlags klang das wie blanker Hohn. Viele von ihnen leiden noch immer unter Angstattacken und Depressionen, so das Ergebnis einer Studie des Norwegischen Forschungszentrums für Gewalt und traumatischen Stress. Bei 60 Prozent der Überlebenden spiegelt sich das unter anderem in schlechteren Schulnoten wider.

Auch Bjørn Ihler musste langsam ins Leben zurückfinden. Er hat als Zeuge im Breivik-Prozess ausgesagt, er hat erzählt, wie es war, sich vor den Kugeln zu verstecken, dabei zwei Kinder zu beruhigen, einen toten Freund im Wasser treiben zu sehen. Bjørn Ihler ist ein tapferer junger Mann. Er ist nach dem Prozess zur Uni zurückgekehrt. Er hat wieder ein Gefühl für normale Dinge wie Wetter und Tageszeiten. Das liegt nicht nur daran, dass Breivik nun weggesperrt ist, "dass er uns nichts mehr tun kann", wie Ihler sagt. Es liege vor allem daran, wie die Norweger mit dem unerhörten Ereignis umgegangen sind, das eine Zäsur war für das ganze Land.

Norwegen bleibt sich treu

Breivik zielte mit seiner Wahnsinnstat auf die Freiheit und multikulturelle Offenheit der Norweger. Es ist ihm nicht gelungen, sie auszulöschen. Zwei Tage nach dem Attentat trat Ministerpräsident Jens Stoltenberg vor die Menschen und sagte, die einzige Chance, diesem Akt des rechtsextremen Terrorismus etwas entgegenzusetzen, bestehe darin, sich zu öffnen: "Wir geben nie unsere Werte auf. Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität. Aber nie Naivität."

Die Norweger haben sich das zu Herzen genommen. Dem Statistischen Zentralbüro zufolge ist die Haltung gegenüber Einwanderern nach den Anschlägen positiver als vorher. 80 Prozent sagten bei einer Umfrage 2012, sie seien der Meinung, die meisten Immigranten (zwölf Prozent der Bevölkerung, in Oslo fast jeder Dritte) leisteten einen wichtigen Beitrag zum Arbeitsleben in Norwegen. Das sind fünf Prozent mehr als im Vorjahr.

Die Polizei, deren spätes Eintreffen auf Utøya Breivik eine Stunde Zeit zum Morden gab, hat sich neu strukturiert. Sie war nach den Anschlägen heftig kritisiert worden, weil der Bericht einer Untersuchungskommission massive Organisationsmängel ergeben hatte. Der gesamte Bereitschaftsdienst wurde auf den Kopf gestellt, das Notrufnetz erneuert und die interne Kommunikation der einzelnen Polizeistellen verbessert.

Größere Sorge um Sicherheit

Und trotzdem: Laut einer neuen Studie des Nationalen Zentrums für Gewalt und traumatischen Stress fühlt sich ein Drittel der norwegischen Bevölkerung weniger sicher als vor den Anschlägen vom 22. Juli. Die Norweger hätten weniger Vertrauen in die Polizei und die Justiz. Das Erschreckende: Vor allem die unter 25-Jährigen sind besorgt, sie selbst, ihre Familien oder ihre Freunde könnten Opfer eines Terrorangriffs werden.

Im vergangenen Jahr hat die Parteijugend der norwegischen Sozialdemokraten ihr Sommerlager ausfallen lassen. Dieses Jahr bauen jungen Leute wieder ihre Zelte — allerdings nicht auf Utøya, sondern in der kleinen Ortschaft Gulsrud an dem See, in dem Utøya liegt. Der Andrang ist groß.

Bjørn Ihler hält es für notwendig, weiter über Breivik und den Umgang mit extremistischen Gedankengut zu debattieren. "Ich glaube aber, viele Norweger haben das schon wieder vergessen. Sie wollen an den 22. Juli 2011 als ein einmaliges Ereignis glauben", sagt Ihler. Er selbst will am Montag, dem Jahrestag der Anschläge, nach Liverpool zurückfliegen, wo er wenige Tage später sein Studium beenden wird. "Für mich war es wichtig, an genau diesem Tag zu fliegen. Als Beweis für mich selbst, wie weit ich seither gekommen bin. Und dass Breivik es nicht geschafft hat, meine Zukunft zu ruinieren."

(RP)
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