Klein-Mogadischu Lewiston Wie eine US-Kleinstadt die Angst vor Flüchtlingen überwand

Lewiston · Als die ersten 1000 Flüchtlinge aus Somalia da waren, rief der Bürgermeister von Lewiston um Hilfe. Bürger riefen zur Gegenwehr gegen eine "somalische Invasion" auf. Inzwischen stammt jeder siebte Bewohner aus Somalia. Das hat die Stadt verändert - und wohl auch gerettet.

Flüchtlinge beleben die Stadt
6 Bilder

Flüchtlinge beleben die Stadt

6 Bilder

Sie wirkt ein wenig verloren zwischen den Lebensmittelregalen, die alte Nähmaschine aus Japan. Man sieht ihr an, dass sie intensiv benutzt wurde, aber nun steht sie da wie ein Museumsstück. Ein Exponat, mit dem Shukri Abasheikh Erinnerungen an die Härten des Neubeginns verbindet, als sie nach Lewiston kam und mit Näharbeiten ihre ersten Dollars verdiente.

Heute gehört ihr ein weithin bekannter Laden, der "Mogadishu Store" an der Lisbon Street, der Hauptstraße Lewistons, einer 36.000-Einwohner-Stadt in Maine, im Hinterland der Atlantikküste, in das sich Touristen eher selten verirren. Neben der Kasse stapeln sich Sambusas, mit Rindfleisch und Gemüse gefüllte Teigtaschen. In einer Gefriertruhe liegen Plastiktüten mit Ziegen- und Kamelfleisch, letzteres importiert aus Australien.

Es duftet nach Basmati-Reis und Kardamom, wie die meisten ihrer Kundinnen ist Shukri Abasheikh in bunt gemusterte Tücher gehüllt. Auf einem Foto sieht man sie neben Barack Obama, da war sie in Portland, der Hafenmetropole, wo sich der Präsident mit Flüchtlingen traf, um deren kleine Erfolgsgeschichten zu würdigen.

Seit 2005 gibt es den "Mogadishu Store", eines der ersten somalischen Geschäfte an der Lisbon Street. "Als wir herkamen, spukten in den Häusern die Geister", sagt Mohamud mit einer Metapher, die beschreiben soll, wie heruntergekommen das Viertel einmal war. Die backsteinroten Textilfabriken am Androscoggin River, die Lewistons Ruf als Industriestandort begründet hatten, waren längst in Billiglohnländer abgewandert. Lewiston hatte ein Siebtel seiner ursprünglichen Bevölkerung verloren. Die Jungen suchten das Weite, wer blieb, kaufte billig bei Wal-Mart am Stadtrand ein. "Wir haben die Geister vertrieben. Wir haben der Stadt neues Leben eingehaucht", sagt Mohamud.

Im Februar 2001 entdeckten die ersten Somalis das abgelegene Lewiston. Geflohen vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat, waren sie zunächst nach Atlanta gekommen, aufgenommen nach einem Quotensystem, das jährlich 70.000 Asylbewerber aus aller Welt ins Land lässt. In Atlanta, erzählt Mohamud, sei der Winter zwar mild gewesen, aber die Kriminalität höher als das, womit sie gerechnet hatten. Um die acht Kinder vor einem Leben zwischen Drogenbanden zu bewahren, zog er mit seiner Familie in einen Landstrich, der nach der Statistik zu den sichersten der USA zählt.

Nach Lewiston. Die Winter bitterkalt, dafür ein schläfriges Provinzmilieu, in dem nicht viel passiert, auch nichts Schlimmes. Damals lief in den Kinos "Black Hawk Down", ein Film, der schilderte, wie US-Soldaten 1993 in Mogadischu bei der Fahndung nach Gefolgsleuten des Warlords Mohammad Farah Aidid ein Fiasko erlitten, wie Aidids Milizionäre die nackten Leichen der Amerikaner durch die Straßen schleiften.

Einer der 18 Getöteten stammte aus der Nähe von Lewiston. Dann krachten am 11. September 2001 entführte Flugzeuge in die New Yorker Zwillingstürme. Ein paar Monate darauf, in Lewiston lebten mittlerweile etwa 1000 Somalis, schrieb Laurier Raymond, der Bürgermeister, einen offenen Brief. Die Gemeinde habe ihr Limit erreicht, sie könne keinen mehr aufnehmen. "Wir hatten Angst, dass uns das alles überfordern würde", erinnert sich Phil Nadeau. "Es ging ja doch ziemlich schnell."

Nadeau, der Vizechef der Stadtverwaltung, zuständig für Flüchtlinge, empfängt in einem Büro, an dessen Wand ein berühmtes Foto hängt. Es zeigt zwei Boxer am Ende eines legendären, wenn auch kurzen Kampfes. Der eine, Muhammad Ali, hat den rechten Arm angewinkelt und schreit auf den anderen ein. Der wiederum liegt hilflos am Boden, bereits in der ersten Runde k.o. geschlagen. Der Fight zwischen dem jungen Supertalent und Sonny Liston, seinem gealterten Gegner, hat Sportgeschichte geschrieben. Nur weiß kaum noch einer, dass er in Lewiston stattfand, im umfunktionierten Eishockeystadion einer High School, in dem am 25. Mai 1965 gerade mal 3000 Zuschauer saßen. "Der erste Muslim, der nach Lewiston kam", sagt Phil Nadeau und zeigt auf Ali.

Heute sind es 6000, fast alle aus Somalia. Nadeau, der 2002 den Mehr-schaffen-wir-nicht-Brief seines damaligen Bürgermeisters zur Lokalzeitung trug, sitzt entspannt an seinem Schreibtisch und spricht von der zwingenden Logik der Immigration. Maine habe von allen 50 Bundesstaaten die drittschlechteste Demografie, die drittälteste Bevölkerung, mehr Sterbende als Neugeborene. "Jeder Unternehmer kennt diese Tabellen. Keiner wird bei dir investieren, wenn er nicht weiß, ob er in zehn, fünfzehn Jahren noch genügend Leute für seine Fabrik findet." Allein durch Zuwanderung aus dem Ausland lasse sich das Problem wohl nicht lösen, aber eine solche Zuwanderung sei zwingend Teil jeder Lösung, meint Nadeau.

Dass es Vorbehalte gibt, weiß auch Nadeau. Er weiß auch, was an Gerüchten in Umlauf ist. In Lewiston kommen beim Thema Flüchtlinge schnell die teuren Autos zur Sprache, die Somalis angeblich fahren, bezahlt vom Staat, wie es heißt. "Von dem, was wir an Unterstützung zahlen, kriegt man nicht mal ein halbes Auto", hält Nadeau schmunzelnd dagegen. Die Finanzhilfe der US-Regierung für anerkannte Flüchtlinge ist auf acht Monate begrenzt. Früher waren es 36, aber das ist längst vorbei.

Asylsuchende, die bereits in Amerika leben, deren Flüchtlingsstatus aber noch offen ist, bekommen bis zur Klärung nicht einen Dollar aus Washington. Sie sind ganz auf die Hilfe einzelner Bundesstaaten angewiesen, wobei Maine zu den großzügigeren zählt. Doch auch in Lewiston ist sie an strenge Auflagen gebunden. Wer sie in Anspruch nimmt, muss Englischkurse besuchen und in Diensten der Stadt arbeiten, sobald er über die nötigen Sprachkenntnisse verfügt, jedenfalls so lange, wie er noch keinen Job gefunden hat.

Wer sich weigert, wird für 120 Tage von sämtlichen Sozialleistungen ausgeschlossen. Anträge auf Zuschüsse sind monatlich zu erneuern, statt Bargeld werden Gutscheine ausgehändigt. Länger als für ein paar Monate beziehe kaum einer Unterstützung, sagt Nadeau.

Der hagere Mann kann sich noch gut daran erinnern, welchen Trubel das Schreiben des alten Mayors, knapp zwei Jahre nach der Ankunft der ersten Somalis, seinerzeit ausgelöst hat. Weiße Überlegenheitsfanatiker versuchten die Ratlosigkeit zu nutzen und erklärten Lewiston zu einer Art Festung gegen die "somalische Invasion". Zur Kundgebung der "World Church of the Creator", einem im mittelwestlichen Illinois beheimateten Ableger des Ku-Klux-Klan, erschienen im Januar 2003 gerade mal 30 Menschen, während sich nahezu 5000 zu einer Gegendemonstration versammelten. "Da wussten wir, wir waren willkommen", sagt Said Mohamud.

Mohamud hat im italienischen Padua Chemie studiert und das Fach an der Somali National University unterrichtet, bis 1991 der Bürgerkrieg ausbrach. 1999 ging es mit Shukri nach Atlanta, 2002 nach Lewiston. Er gab Nachhilfestunden, sie putzte Toiletten und nähte, beide sparten eisern, bis sie den "Mogadishu Store" aufmachen konnten. Zwei Jahre später kauften sie die Immobilie an der Lisbon Street, mit einem Kredit, den in Amerika keiner bekommt, der nicht eine "credit history" aufweisen kann, was im Grunde nur heißt, ein paar Jahre lang ein amerikanisches Bankkonto besessen zu haben. 2011 erwarben sie ein zweites Gebäude, in dessen Parterre sie Kleidung verkaufen. "Es ist immer das Unbekannte, das die Leute verunsichert", zieht der Chemiker Bilanz. "Nun kennen sie uns. Es dauert eben alles ein bisschen."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort