Nach Anschlägen in Istanbul "Immer mehr Anschläge auf Touristenziele sind absehbar"

Düsseldorf · Tunesien, Ägypten, Paris, nun Istanbul - immer wieder kam es in den vergangenen Monaten zu Anschlägen auf touristisch beliebte Ziele. Terrorismus-Experte Peter Neumann sagt, dahinter steckt nicht nur Strategie, sondern Europa muss sich auch an die ständige Bedrohung gewöhnen.

Diese Terroranschläge auf Touristenziele gab es bereits
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Foto: dpa, pla sir gab

In den letzten Monaten kommt es immer wieder zu Anschlägen auf touristische Ziele: Erst Tunesien, dann Ägypten, Paris nun Istanbul - steckt dahinter eine Strategie?

Neumann Ja, definitiv. Ich denke, der IS hat begriffen, dass die Tourismusindustrie ein wichtiges Ziel ist, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen kann man Touristen ohne große Schwierigkeiten sehr viel Schaden zufügen, und zum anderen schwächt man damit auch die wirtschaftliche Situation des Landes.

Bedeutet das, man muss mit weiteren Anschlägen rechnen?

Neumann Es zeichnet sich definitiv langsam ein Muster ab, dass weitere Anschläge kommen werden, ja.

Welche Regionen das betreffen wird, lässt sich aber vermutlich nicht vorhersagen.

Neumann Ganz allgemein nicht. Aber man kann zum Beispiel sagen, dass die Türkei für den IS neben seinen Kerngebieten die wichtigste Region ist. Insofern ist hier, und insbesondere in Istanbul, auch mit weiteren Anschlägen zu rechnen.

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Foto: Lisa S. / Shutterstock.com

Urlauber müssen nun also Angst haben, wenn sie ihre Ferien planen?

Neumann Wenn etwas passiert, dann ist die Panik natürlich groß, aber schon zwei oder drei Monate später haben die meisten ihn wieder vergessen, und dann ist es, als ob die Anschlagsgefahr gar nicht existiert. Deswegen sage ich immer, man muss das realistisch betrachten. Das bedeutet: Es wird auf jeden Fall häufiger Anschläge geben - und auch in Europa wird es so etwas wie Paris vermutlich auch 2016 wieder geben.

Aber das ist doch eine dramatische Aussage.

Neumann Ja, aber gleichzeitig muss man sich bewusst machen, dass solche Dinge nicht ständig und überall passieren. Die Chance im Urlaub durch einen Terroranschlag zu sterben ist immer noch sehr, sehr gering - aber eben möglich. Und sie ist sicherlich höher, als sie es vor zehn oder 15 Jahren war.

Das heißt letztlich besteht doch eine permanente Gefahr - und zwar so gut wie überall.

Neumann Es gibt eine erhöhte Bedrohungslage, ja. Und an die werden sich die Menschen mit der Zeit gewöhnen müssen, ähnlich wie es den Briten in den 80er Jahren erging. Damals konnte man kaum mehr in eine U-Bahn gehen, wegen möglicher Bombenanschläge der IRA. Das zeigt auch: Die Menschen können sich daran gewöhnen.

Das bedeutet aber eben auch, dass man immer darauf gefasst sein muss, dass eine Terrorwarnung ausgerufen wird. Ein beunruhigendes Leben.

Neumann Ja. Ich denke, so etwas wie wir es an Silvester in München erlebt haben, als der Hauptbahnhof über mehrere Tage gesperrt bliebt, so etwas werden wir in Zukunft öfter erleben. Aber auch hier zeigt sich: Es war erst eine große Geschichte, und im Nachhinein spricht kaum jemand mehr darüber.

Ich habe heute eine Studie aus dem letzten Jahr gesehen, in der stand, dass es bis zum Jahr 2050 ebenso viele Muslime wie Christen auf der Welt geben wird. Verschärft das in den kommenden Jahren die Situation?

Neumann Das ist das Problem am Dschihadismus, nicht alle Muslime sind davon gleichermaßen betroffen. Indonesien ist mit 250 Millionen Einwohnern das größte muslimische Land und dennoch haben sie kaum Kontakt mit dem Extremismus. In Indien leben 180 Millionen Muslime, und trotzdem sind die meisten Anschläge dort aus Pakistan importiert. Letztlich ist der Dschihadismus ein arabisches Problem, das durch politische Konflikte in der arabischen Welt entsteht.

 Peter Neumann ist Terror-Experte am renomierten King`s College in London.

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Foto: Peter Neumann

Aber es gab doch gerade einen Anschlag in Indonesien. Wie ist der dann zu bewerten oder einzuordnen?

Neumann Das stimmt, aber verglichen mit Ländern wie Tunesien oder Saudi-Arabien, wo es Tausende Dschihadisten gibt, die sich im Laufe der Jahre auf den Weg nach Syrien oder Pakistan gemacht haben, ist Indonesien sehr wenig betroffen. Sogar im Vergleich zu Frankreich oder Belgien. Frankreich hat eine muslimische Bevölkerung von fünf Millionen und 1500 Auslandskämpfer in Syrien, Indonesien hat eine muslimische Bevölkerung von 230 Millionen und gerade mal ein oder zweihundert Auslandskämpfer!

Aber es gibt ja auch Extremismus in Europa.

Neumann In Europa sind die Menschen aber anders motiviert. Hier geht es vor allem um die schlechte Integration, die dazu führt, dass sich eine Gegenströmung aufbaut, die den Hass gegen Europa zum Ausdruck bringen will.

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Wenn das die beiden Hauptgründe für die Terroranschläge sind, würde das aber auch bedeuten, dass ein Ende des Terrors nicht absehbar ist.

Neumann Das ist es auch nicht. Nordafrika hat viele Probleme und im Nahen Osten befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie während des 30-Jährigen Krieges in Europa. Das ist ein intensiver Transformationsprozess, dessen Endstadium wir nicht absehen können. Aber zugleich wissen wir, dass es zum Ausgangspunkt nicht zurückgehen wird. Und dabei geht es um viel mehr als nur um Religion, nämlich auch um Kultur, soziale Probleme, Geschichte und vieles mehr.

So lässt sich zumindest der Anfang des Terrors erklären.

Neumann In der deutschen Geschichte gab es eine solche Situation während der Rezession in den 1920er bis frühen 1930er Jahren. Die Unzufriedenheit damals war die wichtigste Grundlage für die Nazis, denn diesen Konflikt haben die sie genutzt, um ihre eigenen Ziele zu formulieren, und an die Macht zu kommen.

Neumann Die Nazis ähneln dem IS insofern, als es beide totalitäre Bewegungen sind. Die eine hat es durch Wahlen an die Macht geschafft, obwohl auch eine gehörige Portion Strassenterror dazugehörte, die andere ausschließlich durch Gewalt. Aber in der Ausrichtung und im Anspruch sind sich beide durchaus ähnlich.

Und inwiefern lässt sich das auf die Situation im Nahen Osten übertragen?

Neumann Damit Terrorismus entsteht, braucht man immer drei Komponenten: Einen gesellschaftlichen Konflikt, der instrumentalisiert werden kann. Eine Ideologie, die die Lösung für diesen Konflikt liefert, und einen Anführer oder eine Bewegung, die die Leute mobilisert und die soziale Komponente liefert. Der IS ist ebenso eine Ideologie mit Anführer und sozialer Gruppe, die den Menschen in Europa scheinbar eine Lösung bietet, die wegen einer gescheiterten Integration unzufrieden sind und nicht wissen wohin mit sich. Und den Sunniten im Irak bietet er eine Anlaufstelle, nachdem sie jahrelang systematisch von der Regierung des Landes ausgeschlossen worden sind.

Und in Syrien?

Neumann In Syrien sind vom Bürgerkrieg inzwischen über 70 Prozent der Bevölkerung betroffen, das bedeutet, fast jeder hat jemanden verloren. Und dieser Verlust wird dann durch den IS instrumentalisiert.

Peter Neumann ist weltweit einer der wichtigsten Experten für islamistischen Terrorismus. Er lehrt am Londoner King's College und hat in diesem Jahr ein Buch über den neuen Terror veröffentlicht. Der Titel: "Die neuen Dschihadisten: ISIS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus". Das Interview führte Susanne Hamann.

(ham)
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