Nach der dritten Krawallnacht von London Wut und Fassungslosigkeit im Qualm der Hausruinen

London (RP). Sie nennen jetzt ihr Wohnviertel ein "Kriegsgebiet". In den abgesperrten Straßen von Croydon, wo die Luft noch schwer vom Rauch aus den verkohlten Hausruinen ist, stehen die Menschen schweigend vor den zerstörten Geschäften und machen unablässig Fotos - als müssten sie sich vergewissern, dass sie den Albtraum nicht nur geträumt haben.

Zerstörungswut bei Krawallen in England
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15 Stunden, nachdem eine Gewaltwelle durch den südlichsten Bezirk der britischen Metropole gerollt war, zieht die 79 Jahre alte Linda Pound weinend durch die High Street. "Es ist so traurig", wiederholt immer wieder die Pensionärin, die scheinbar unter Schock steht. Am Abend zuvor war Linda nach eigenen Worten vor den Krawallen zu einer Freundin in einen anderen Stadtbezirk geflohen. Jetzt erkennt sie Croydon nicht wieder.

Sie ist nicht die Einzige. "Papa, was ist hier bloß passiert", fragt verwundert ein schwarzer Junge, der seinen Vater an der Hand hält. Der Mann zögert. Es ist schwer zu erklären. "Hier waren Tiere am Werk", sagt er schließlich ernst. "Das sind wahnsinnige Menschen, denen nichts heilig ist. So etwas hätte nie passieren dürfen."

Die dritte Krawallnacht in Folge war die schlimmste in London. 20.000 Notrufe gingen bei der Polizei und Feuerwehr ein. 6000 Ordnungshüter in den Straßen waren faktisch machtlos gegen kleine, mobile Gruppen von vermummten jungen Männern und Frauen, die sechs Stadtviertel überfielen und in Brand gesteckt haben: Zunächst Hackney im Norden, dann Peckham, Ealing, Camden, Clapham und Croydon, wo die Sicherheitskräfte einen 26-jährigen Mann blutend in dessen Auto liegend fanden.

Erstes Todesopfer

Der angeschossene Brite starb am Dienstag in einem Krankenhaus. Zu den Opfern der Gewalt zählen auch 44 teils schwer verletzte Polizisten. Es grenzt an ein Wunder, dass in den zahlreichen ausgebrannten Wohnungen und Läden keine Menschen gestorben sind. Das ist die vorläufige Bilanz der verheerenden Explosion der Gewalt in der Olympia-Stadt: 525 Verhaftungen, der jüngste Randalierer soll erst elf Jahre alt sein. Die Zellen der Polizeireviere sind voll. In Erwartung weiterer schwerer Ausschreitungen hat der Scotland Yard Verstärkungen von 26 regionalen Polizeibehörden angefordert.

Nicht weniger als 16.000 Polizisten patrouillierten am Abend in den Straßen der Metropole, um eine Rückkehr der Anarchie zu verhindern. Dabei fehlt es auch woanders an Einsatzkräften. In der Nacht zu Dienstag hat es in Liverpool, Birmingham, Bristol, Manchester und Nottingham Straßenkämpfe und Plünderungen gegeben. Die dramatischsten Bilder gab es wohl in Croydon, wo ganze Straßenzüge lichterloh gebrannt haben. "Es war wie im Blitzkrieg", sagen hier manche Menschen, die zwischen Wut und Fassungslosigkeit schwanken.

Jeannie Boxall wird diese Nacht nie vergessen. "Es waren etwa 400 Jugendliche, die unsere Straße verwüstet haben", erzählt die Besitzerin des Pubs "Jack Beards at the Gun". Die maskierten Angreifer hätten die Fenster der Läden eingeworfen und DVD-Spieler, Telefone und Fernseher mitgenommen. "Sie waren bestens organisiert. Die jungen Frauen hielten Ausschau nach Polizei, während ihre Freunde draußen vor den Geschäften in Autos mit laufenden Motoren warteten."

Jeannie verschloss den Hintereingang ihres Pubs und postierte Freunde als Wachen an der Eingangstür, um die Plünderer zu vertreiben. Sie erzählt, wie die Meute vorbeizog, um Minuten später einen Doppeldecker anzuzünden und ein großes Möbelgeschäft um die Ecke zu überfallen: "Einer von denen hatte ein Feuerzeug dabei, er setzte ein Sofa in Brand." So wurde ein 1867 gegründetes Traditionsgeschäft mit 15 Angestellten vernichtet. Die Glut beschädigte auch die umstehenden Gebäude.

Eine Zange dabei - das ist verdächtig

"Es ist das Ende", flüstert eine junge Frau, die hinter dem flatternden blauen Band der Polizeiabsperrung mit feuchten Augen eine schwarze, rauchende Hausfassade anstarrt. "Mein Mann und ich hatten zehn Jahre gebraucht, um diese Anwaltspraxis aufzubauen. Jetzt müssen wir alles von vorne beginnen", sagt traurig die indischstämmige Juristin, die ihren Namen nicht nennen will. Viele in Croydon sind so erschüttert, dass sie über das Erlebte nicht sprechen können.

Ein blasser, unrasierter Mittvierziger betritt ein Lokal. "Mein Held!" — mit einem Aufschrei stürzt sich eine Frau auf den Mann, der angeblich am Abend vorher zwei Kinder aus einem brennenden Haus gerettet hat. Er wirkt müde und verstört. Nebenan in der Fußgängerzone nehmen vier Polizisten in Panzerwesten drei Kinder fest. Einer der Schüler — er dürfte höchstens zehn Jahre alt sein — hat eine große Zange bei sich. Das ist verdächtig.

Während seine Kameraden brav die Schlüssel, Handys, Münzen und Kaugummis aus den Hosentaschen auf den Boden legen, bleiben in einiger Entfernung drei junge Schwarze stehen. Sie fluchen leise. "Es ist die Polizei, Mann. Sie ist an allem Schuld", sagt der älteste Teenager mit einer Kette um den Hals. "Die Bullen haben einen Unschuldigen erschossen, dafür müssen sie büßen. Wir nehmen Rache, Mann. So ist das Leben."

Die Menschen in London fühlen sich allein gelassen. Sie glauben nicht, dass der Staat sie beschützen kann. Ihre Geduld mit den Politikern ist zu Ende. Manche fordern einen Armeeeinsatz gegen die Randalierer in ihren Vierteln, andere verlangen die Einführung einer "Null-Toleranz"-Strategie der Sicherheitskräfte nach dem Vorbild New Yorks. Die dritten wollen, dass die Regierung den "antisozialen Schmarotzern" die Sozialhilfe streicht und die Menschen zum Arbeiten zwingt, damit diese ihre Gemeinden zu respektieren lernen.

Sondersitzung des Parlaments geplant

Es gibt auch Stimmen, die die Immigranten für das Chaos verantwortlich machen. Fast alle sind sich jedoch einig darin, dass die Regierung die Bedürfnisse der jungen Menschen ignoriert hat. "Sie haben die Jugendzentren geschlossen und den Kids alles weggenommen", sagt die Pubbetreiberin Jeannie Boxall. "Darum darf sich Cameron nicht wundern, wenn es eine Rebellion aus Langeweile gibt."

Der britische Premier ist am Dienstag aus einem Italien-Urlaub vorzeitig nach London zurückgekehrt, um eine Krisensitzung in der Downing Street abzuhalten. Der wegen seiner langen Abwesenheit scharf kritisierte Tory-Chef ließ vor der Tür der Nummer Zehn seinem Ärger über den Ausbruch der "puren Kriminalität" an der Themse freien Lauf. "Wir sind entschlossen, die Ordnung wieder herzustellen. Sie werden die Kraft des Gesetzes spüren", drohte er den Randalierern.

"Wer alt genug ist, Straftaten zu begehen, ist auch alt genug, um bestraft zu werden." Cameron will am Donnerstag eine Sondersitzung des Parlaments einberufen. Der Druck auf die Regierung wächst. Am Dienstag wurde der Einsatz von Plastik- und Gummigeschossen gegen die Plünderer nicht länger ausgeschlossen.

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