Vom Grauen des Gaskriegs Vor 100 Jahren setzten deutsche Truppen erstmals Giftgas ein

Brüssel · Am 22. April wird ein grauenvoller Jahrestag begangen: Vor genau 100 Jahren haben deutsche Soldaten erstmals Giftgas in einem Krieg eingesetzt.

 Das undatierte Handout des "Collection In Flanders Fields Museum" in Ypern zeigt die Situation nach einem Gas-Angriff am 22.04.1915 in der Nähe von Ypern.

Das undatierte Handout des "Collection In Flanders Fields Museum" in Ypern zeigt die Situation nach einem Gas-Angriff am 22.04.1915 in der Nähe von Ypern.

Foto: dpa, fpt

Kanarienvögel im Schützengraben: Ein Trick, mit dem sich Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg gegen feindliche Gasangriffe zu schützen suchten. Denn die Tiere reagieren äußerst empfindsam auf Luftveränderungen, wie es in einem Bericht des Deutschen Historischen Museums heißt. So konnte Alarm ausgelöst und zu den Gasmasken gegriffen werden. Doch als vor 100 Jahren im belgischen Ypern die deutsche Armee mehrere tausend Gasflaschen öffnete, gab es solchen Schutz noch nicht.

Am 22. April 1915 wurde Gas als todbringende Waffe zum ersten Mal in der Geschichte in größerem Maßstab eingesetzt, ist sich die Geschichtswissenschaft heute einig. Aus tausenden Flaschen ließen die Deutschen Chlorgas strömen. Dabei war der deutsche Generalstabschef Erich von Falkenhayn zunächst skeptisch, sagt der Historiker Timo Baumann. Schließlich konnte das Chlorgas längst nicht so flexibel wie ein Gewehr oder die Artillerie eingesetzt werden. Vielmehr musste darauf geachtet werden, wie der Wind weht, und dafür "muss man auch auf den Wetterbericht schauen", erläutert der Forscher von der Universität Düsseldorf.

Der Einsatz bei Ypern, das rund 30 Kilometer von der Nordsee und unweit der französischen Grenze in Flandern liegt, sei daher eher improvisiert gewesen, urteilt Baumann. "Der Falkenhayn wollte das einfach mal ausprobieren." Ähnlich sieht das Franky Bostyn, Historiker beim belgischen Verteidigungsministerium: "Der Einsatz von Gas war ein Experiment."

Ein tödliches Experiment

Aber ein Experiment, das bald ebenso zum Grauen des Krieges gehören sollte wie Bajonette und Maschinengewehre oder später Flammenwerfer und Panzer. Zwar spielte es keine kriegsentscheidende Rolle, meinen übereinstimmend die Historiker Bostyn und Baumann. Dennoch: Es wurden immer mehr chemische Kampfstoffe entwickelt und auch deren Einsatz perfektioniert. Hatten die Deutschen bei Ypern das Gas aus Flaschen abgelassen, so konnte es später auch mit Granaten von der Artillerie eingesetzt werden - zum Beispiel beim "Buntschießen".

Was sich nach einem harmlosen Kinderspiel anhört, stand nach einem Bericht des Deutschen Historischen Museums für das Verschießen verschiedener Kampfstoffe unter den Stichworten Gelbkreuz, Blaukreuz oder Grünkreuz. Besonders perfide: Die Blaukreuz-Stoffe hätten sogar die Atemfilter der Gasmasken durchdrungen. Ihre Reizwirkung zwang die Soldaten, sich diese vom Gesicht zu reißen. Daraufhin konnten auch andere Gase ihre Wirkung tun.

"Lungen buchstäblich ausgebrannt"

Die fürchterlichen Folgen des Gaskriegs schilderte 1917 die Krankenschwester Shirley Millard. "Sie ringen um Atem, aber nichts kann getan werden (...) Ihre Lungen sind weg (...) buchstäblich ausgebrannt", heißt es in einem Zeugnis von 1917. "Bei manchen sind die Augen und Gesichter vollständig vom Gas weggefressen, und ihre Körper mit Verbrennungen ersten Grades bedeckt. Wir müssen versuchen, ihnen durch Ölgüsse Linderung zu verschaffen. Sie können nicht verbunden oder berührt werden."

Das Zeugnis der Krankenschwester hat der Verband Visit Flanders veröffentlicht, zusammen mit anderen Dokumenten, die den Krieg vor hundert Jahren beschreiben. In Belgien, wo ganze Landstriche verwüstet wurden, heißt er weiterhin "Der große Krieg". Rund um den 22. April gedenken Belgier und Gäste bei verschiedenen Veranstaltungen der Opfer des ersten Gasangriffs. Aber Visit Flanders weist auch darauf hin, dass jenes Datum nur der Anfang war. In späteren Kriegen und Konflikten ist oder soll immer wieder Gas zum Einsatz gekommen sein - bis hin zum Bürgerkrieg in Syrien.

Arte-Doku nichts für schwache Nerven

Es ist ein trauriger Jahrestag, der den Anlass für den Film "Giftgas: Der unsichtbare Feind" bietet. Fabienne Lips-Dumas hat sich für ihren Dokumentarfilm, den Arte am kommenden Dienstag (28. April) um 20.15 Uhr ausstrahlt, aber nicht nur mit historischen Fakten beschäftigt. Sie schlägt auch den Bogen zu tödlichen Gasattacken in Syrien, die erst wenige Tage zurückliegen.

Der hervorragend recherchierte 75-Minuten-Film ist keine leichte Kost. Der Sender weist deshalb auch auf Passagen hin, "die empfindsame oder junge Zuschauer schockieren können". Dazu zählen nicht nur die Aufnahmen der Opfer von Giftgasattacken im Ersten Weltkrieg, in Syrien oder im Irak. Auch die Erzählung eines für den Film interviewten syrischen Arztes dürfte vielen, die sich auf diese Dokumentation einlassen, noch lange in Erinnerung bleiben. Der Arzt berichtet, wie sein Kollege nach einem Giftgasangriff entscheiden musste, wem er das einzige Beatmungsgerät anlegt - einer Mutter oder einem ihrer drei Kinder.

(AFP)
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