"Charlie Hebdo" Frankreich erlebt seinen 11. September

Paris · Das Attentat vom Mittwoch traf nicht nur die Zeitung "Charlie Hebdo", sondern auch eine ohnehin zutiefst verunsicherte französische Gesellschaft. Der nationale Schulterschluss dürfte nicht lange halten.

In Paris gingen am Donnerstagabend tausende Menschen auf die Straße und ihrer Solidarität Ausdruck zu verleihen.

In Paris gingen am Donnerstagabend tausende Menschen auf die Straße und ihrer Solidarität Ausdruck zu verleihen.

Foto: dpa, isl ks

Punkt zwölf Uhr. In Paris bleiben Busse und Bahnen eine Minute stehen. Die Glocken der Kathedrale Notre-Dame läuten, in den Schulen schweigen Schüler und Lehrer, auch in Büros ruht die Arbeit. Staatstrauer hatte Präsident François Hollande ausgerufen nach dem Anschlag am Mittwoch auf die Satire-Zeitung "Charlie Hebdo" mit zwölf Toten, den vermutlich Islamisten verübten. Ein solches Zeichen wurde in Frankreich zuletzt nach dem 11. September 2001 gesetzt.

Die landesweite Trauer soll das Gefühl der Einheit vermitteln, das jetzt von so vielen beschworen wird. Allen voran von Hollande selbst, der am Mittwochabend vor mehr als 20 Millionen Zuschauern in einer Fernsehansprache sagt: "Unsere beste Waffe ist die Einheit der Nation." Für den Präsidenten ist das Attentat ein Angriff auf das Herz Frankreichs. "Man wollte den französischen Geist töten, die Freiheit, die Demokratie, die Toleranz", sagt auch Regierungschef Manuel Valls.

Von diesem Geist war zuletzt allerdings nicht mehr viel zu spüren. Denn das Attentat auf "Charlie Hebdo" ist nur der vorläufige traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die Frankreich seit Jahren nimmt. Es sind nicht nur die schwere Wirtschaftskrise und der ewige, unergiebige Streit um Reformen, die die Franzosen bedrücken. Auch das Zusammenleben der Religionen funktioniert in Frankreich schon lange nicht mehr richtig. Die Auswanderung Tausender Juden, die sich vor offener antisemitischer Gewalt auf den Straßen fürchten, nach Israel gehört ebenso dazu wie die steigende Zahl von Angriffen auf islamische Einrichtungen.

Vor einer "Stigmatisierung der Muslime" wird nicht erst seit dem Anschlag vom Mittwoch gewarnt. "Zweifel haben sich seit Langem in unserer Gesellschaft eingenistet über ihren Zusammenhalt, ihre Integrationsfähigkeit, ihr ,republikanisches Modell'", schreibt die Zeitung "Le Monde".

Frankreich hat sowohl die größte jüdische als auch die größte muslimische Gemeinde Europas. Doch Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und Werteverlust machen den Konsens unter dem Dach der laizistischen Republik zunehmend brüchig. Erst im Dezember wurde ein jüdisches Paar in der Pariser Vorstadt Créteil in seiner Wohnung mit den Worten überfallen: "Ihr seid Juden, ihr habt Geld." Zweieinhalb Jahre zuvor hatte der Attentäter Mohamed Merah drei jüdische Kinder und einen Lehrer in Toulouse in Südfrankreich getötet.

Schon damals hatten Vertreter aller Religionen gemeinsam den Terrorakt verurteilt. Auch nach dem Angriff auf "Charlie Hebdo" standen die Religionen zusammen: Demonstrativ zeigten sich die geistlichen Oberhäupter von Juden, Muslimen, Katholiken und Protestanten am Mittwoch im Elysée-Palast.

Doch wie lange wird die Einheit der Nation nach dem schwersten Attentat seit Jahrzehnten halten? Wahrscheinlich nicht über die große Gedenkdemonstration am Sonntag hinaus. Denn es droht eine Debatte über das Thema Sicherheit. Schon kritisieren Konservative die "Schwäche des Staates" im Umgang mit Terroristen. Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, die regelmäßig gegen Muslime hetzt, fordert die Wiedereinführung der Todesstrafe.

Sie will die Dinge beim Namen nennen, wie sie sagt - auch die "Masseneinwanderung", die ihr Vater Jean-Marie Le Pen sofort mit dem Angriff auf "Charlie Hebdo" in Verbindung bringt. Der Front National hofft, dass sich diese Haltung demnächst an den Wahlurnen auszahlen wird. Schon im vergangenen Jahr wurde der FN bei der Europawahl mit rund 25 Prozent stärkste Partei in Frankreich. Gestern traf sich Hollande mit Marine Le Pen und seinem Vorgänger Nicolas Sarkozy, um über die Lage zu beraten.

"Es wird ein Vorher und ein Nachher geben", bemerkt der Sozialistenchef Jean-Christophe Cambadélis zu den dramatischen Ereignissen. "Für Frankreich war das so wie der 11. September für die USA." Schnell begannen die Sozialisten zusammen mit anderen Parteien, Demonstrationen für die Opfer und die Meinungsfreiheit zu organisieren.

Schon am Mittwochabend versammelten sich 100.000 in ganz Frankreich in stillem Gedenken. Unter dem Motto "Je suis Charlie" ("Ich bin Charlie") ist eine Bewegung entstanden, der sich in den sozialen Netzwerken massenhaft Menschen anschließen.

Ein "Tritt in den Hintern der Fanatiker" sei "Charlie Hebdo" gewesen, schreibt die Zeitung "Libération". Sie bietet den Überlebenden des Angriffs nun ihre Redaktionsräume an. Und das Satireblatt soll nächste Woche wieder erscheinen. Denn die Fanatiker sollen in Frankreich nicht das letzte Wort behalten.

(RP)
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