Düsseldorf Der Charme der 60er Jahre ist zurück

Düsseldorf · Nieren-Tische und quietschbunte Muster-Tapeten sollen die "gute alte Zeit" ins eigene Zuhause holen.

Skandinavisch-schlicht war gestern. Die aktuellen Kataloge der großen Möbelhäuser sehen aus wie die Kulissen der amerikanischen Kultserie "Mad Men", die das Innenleben der US-Werbeindustrie der 60er Jahre zeigt. Oder wie die Wohnungen unserer Eltern und Großeltern.

Da stehen plüschige Loungesessel neben nierenförmigen Tischen mit staksigen Beinen auf Teppichen mit geometrischen Mustern, gerne in beige-braun, orange oder olivgrün. Das kann man abschreckend, spießig und bieder finden, aber immer mehr Menschen zwischen 20 und Anfang 40 fühlen sich davon angezogen. "Für sie verheißt diese neue alte Einrichtung Geborgenheit und Schutz. Die eigenen vier Wände werden damit zu einer Oase in der rauen Arbeitswelt, die viele als Hamsterrad empfinden, in dem sie immer mehr leisten müssen", sagt Thomas Kirschmeier vom Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold. Aus rund 100 ausführlichen Interviews ergab sich ein klares Bild: Die jungen Leute haben Angst vor der Zukunft und fühlen sich in der Gegenwart ohnmächtig angesichts immer neuer Negativnachrichten aus der Wirtschaft.

"Dem wird das Bild einer ,guten alten Zeit' entgegengesetzt", sagt Marktforscher Kirschmeier. "Früher konnten keine Banken oder gar Länder pleitegehen. Das war völlig undenkbar, genau wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die Euro-, Finanz- und Arbeitsmarktkrise." In den 50er Jahren lag Deutschland noch in Trümmern, doch danach ging es rund zwei Jahrzehnte lang nur in eine Richtung: bergauf. Für viele Unter- 50-Jährige sind die 60er Jahre deshalb synonym mit Wirtschaftswunder, Wettlauf zum Mond, den ersten James-Bond-Filmen und sexueller Revolution. Aus einer diffusen Sehnsucht nach dieser Zeit begannen trendbewusste Kneipiers vor etwa einem Jahr, zunehmend alte Möbel und Tapeten aus diesen Jahren zu verwenden.

Mit den aktuellen Katalogen der Möbelhaus-Ketten wird das einstige Trendsetter-Phänomen in die Mitte der Gesellschaft getragen. "Wenn der Möbelhändler um die Ecke so was macht, hätte das keinen Effekt. Aber gerade Ikea ist sehr gut darin, solche Impulse aufzunehmen und zu verstärken", erklärt Kirschmeier. Erstmals haben sich die Schweden von den 60er Jahren inspirieren lassen und dafür mit "Stockholm" eine ihrer umfangreichsten Kollektionen "renoviert". Dass der Trend so prominent vertreten ist, verleiht ihm eine gewisse Legitimation.

Der Marktforscher sieht keinen Anlass, sich über dieses Phänomen lustigzumachen – im Gegenteil: "Die Leute denken ja nicht: Ich kauf' mir 'nen Nierentisch, und dann wird alles wieder gut!', sie leben ihr normales Leben weiter und benutzen natürlich auch ihre Laptops auf den Retro-Möbeln." Die Umgebung habe aber offenbar eine beruhigende Wirkung, erleichtere das Entspannen und Aufladen der eigenen Energiereserven. Dies alles passt zum Zeitgeist, der junge Leute seit Jahren zuhause basteln, stricken, häkeln, kochen und gärtnern lässt – teils sogar in eigenen Schrebergärten. Und wer wenig Geschick hat, kauft Handgemachtes eben bei hochpreisigen Händlern.

Kirschmeier beobachtet bei der seit Jahren anhaltenden allgemeinen Retro-Welle auch eine Abkehr von der "Geiz ist geil"-Mentalität. Davon profitieren altbekannte Marken, etwa "Ahoj"-Brause oder Autos wie der Fiat 500 sowie der Mini. Das Comeback der "Fliegenpilz-Tomaten" (halbe Tomate mit Mayo-Tupfern auf aufrecht stehendem Ei) bleibt uns vermutlich erspart.

(RP)
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