Mauerfall 1989/2014 - zwei Besuche im Osten

Kurz nach dem Fall der Mauer reisen wir durch die DDR, sehen Görlitz, Wernigerode, Dresden, Bitterfeld, Halle – ein Vierteljahrhundert ist seit diesem Trip vergangen. Jetzt haben wir die Reise wiederholt. Es hat sich viel verändert in dieser Zeit. Damals hatten wir das Gefühl, so weit weg von daheim zu sein wie nie zuvor, so fremd war das alles.

So sah es 1989 in Ostdeutschland aus
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So sah es 1989 in Ostdeutschland aus

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Kurz nach dem Fall der Mauer reisen wir durch die DDR, sehen Görlitz, Wernigerode, Dresden, Bitterfeld, Halle — ein Vierteljahrhundert ist seit diesem Trip vergangen. Jetzt haben wir die Reise wiederholt. Es hat sich viel verändert in dieser Zeit. Damals hatten wir das Gefühl, so weit weg von daheim zu sein wie nie zuvor, so fremd war das alles.

Es ist der Abend des 9. November 1989, hoch über dem Atlantik in einem Lufthansa-Jumbo auf dem Weg nach San Francisco, als der Pilot sich meldet und erklärt "Meine Damen und Herren, ich freue mich, Ihnen sagen zu dürfen: Die Mauer ist auf!". Staunen, ein paar klatschen Beifall, die meisten bleiben stumm, sprachlos. Irgendwo bei Reihe 22 sitze ich, am Fenster, kann kaum glauben, was ich da höre. Die Mauer ist auf! Der Alptraum für einen Reporter - weiter weg vom Ereignis des Jahrhunderts kann man in dieser Nacht, zumal als Deutscher, nicht sein.

In Berlin hat ein Herr Schabowski kurz zuvor die Sensation verkündet. Jeder kennt diese so merkwürdig beiläufig ablaufende Szene, merkt, dass die anwesenden Journalisten zuerst überhaupt nicht begreifen, was geschieht, Aber die DDR-Bürger, an derlei Polit-Büro-Sprech gewöhnt, horchen auf. Ausreise? Unverzüglich? Ohne Vorliegen von Gründen? Massenhaft strömen sie an die Übergangsstellen - und wollen raus. Allerdings nur kurz: "Wir kommen wieder" ist der Spruch des Abends. Was die meisten auch umsetzen. Berlin Bornholmer Straße ist in jener Nacht, was man heute place to be nennt.

So hat sich der Osten verändert
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Meiner ist ein Sitz im Jumbo auf dem Weg nach USA.

Dann ergeht der Auftrag des damaligen Chefredakteurs an RP-Fotograf Werner Gabriel: Ab in die DDR, alles anschauen, Fotos machen, und dann sehen, was wir damit machen. Der Meister des unbewegten Bildes war noch nie drüben - so heißt das in diesen Zeiten - , kommt zu mir mit einer Liste voller Fotowünsche und will Rat. Er weiß, dass ich Anfang der 70er Jahre nach dem Abitur nach Berlin gegangen bin, um in der geteilten Stadt mit diesem sehr speziellen Viermächte-Status der Bundeswehr zu entgehen, natürlich im Osten der Stadt war und mehrfach in die DDR gereist bin. Weil ich fasziniert war von diesem Land, das so exotisch war für uns Studenten, das wir "das andere Deutschland" nannten und von dem wir Jüngeren dachten, es sei Ausland wie Spanien oder Italien.

Was es aber nicht war.

Ich hatte irgendwann für mich erkannt "Das kann auf Dauer nicht funktionieren!" Egal, was MSB Spartakus und andere radikal linke Gruppen an unseren Unis von diesem Paradies der Werktätigen erzählten: Nur absolute Fanatiker glaubten diesen Spinnern. Und selbst die wurden ruhiger, wenn sie mal drüben gewesen waren.

Die Neugier ist also in diesem groß in dieser Zeit nach dem Öffnen der Mauer- und es komm zum spontanen Entschluss: Wir fahren zusammen. Gabriel im Auftrag der RP, ich dabei auf eigene Kappe als Beobachter, der die Ereignisse nach dem Mauerfall im Hotelzimmer in San Francisco in den pausenlos berichtenden US-Nachrichtensendern CBS und ABC verfolgt hat und nun die Chance sieht, live dabei zu sein, wenn ein Volk plötzlich lernen darf (oder muss), nicht mehr eingesperrt zu sein. Durch frühere DDR-Reisen klug geworden, packe ich Proviant ins Auto - und ein paar Flaschen Wein. Die Versorgungslage der DDR ist, wie ich weiß, oft nicht erfreulich.

Häufig war ich in Helmstedt-Marienborn über die Grenze gefahren, habe die schikanösen Kontrollen nie vergessen. Nun haben wir gehört, in der Nähe seien weitere Grenzpunkte geöffnet worden. Dort wollen wir hin - und finden südlich von Helmstedt einen solchen Übergang. Eine provisorische Brücke über einen Fluss, eine Bretterbude, ein paar Grenzer in den berühmt-berüchtigen blassgrünen Uniformen., Trabis tuckern mit ihrem typischen Zwei-Takter-Ton hin und her, hinter sich die stinkenden Rauchfahnen aus den Auspuffrohren. Den Männern ist die Unsicherheit anzumerken, linkisch tun sie ihren Job - aber, anders als kurz zuvor, jetzt ohne Spiegel mit langen Griffen für den Blick unters Auto, ohne Hunde, die auf Leitern in Lkw klettern, ohne diesen kalten, herrischen Ton, mit dem sie früher das Öffnen des Kofferraums befahlen, alles durchwühlten, Zeitungen, Zeitschriften oder Musikkassetten beschlagnahmten oder nur die Deckblätter von Stern, Spiegel oder Playboy abrissen. Einer stempelt achselzuckend und mit schrägem Grinsen den Reisepass - DDR steht auf dem Stempel, mit einem Datum. Es soll der Letzte dieser Art sein, schon auf der Rückreise einige Tage später gibt es solche Kontrollen nicht mehr. Den Pass habe ich heute noch, nur wegen dieses Eintrags.

Nach dieser Grenze, die plötzlich so durchlässig ist, erleben wir eine DDR in einem merkwürdigen Zwischenzustand: Das Alte ist weg, das Neue noch nicht da. Im Grunde ein sterbender Staat, was wir aber noch nicht wissen können. Mit einem Schlag ist alles offen: Wir gehen in Bitterfeld-Wolfen problemlos in die dortige Chemiefabrik Orwo, werden vom Geschäftsführer empfangen. Ein großer, heller Fleck hinter seinem Schreibtischstuhl fällt auf. Danach gefragt, grinst er und führt uns - "Wollen'se ihn mal sehen?" - zu einem Vorhang, schiebt ihn zur Seite - dort steht das berühmte Honecker-Bild, Erich im beigen Anzug und dicker Hornbrille. Der Neue, Egon Krenz, hat es noch nicht bis an die Wand geschafft. Der Mann bei Orwo ist ein alter Hase, wartet ab, was passiert, wer kommt.

In unserem Wagen, begleitet vom Chef, fahren wir über das Firmengelände und sehen, riechen, schmecken eine Vernichtung der Umwelt, die wir uns nicht hätten vorstellen können. Alles ist verrottet, überall stinkende Brühe, eine dicke, graue Flüssigkeit läuft aus einem Rohr in einen See, alles ist tot, es beißt in der Nase, die Bäume sind verkümmert. Resigniert erzählen uns die Menschen von ihrer Ohnmacht gegen dieses Verbrechen.

Am nächsten Tag: Eine Brikettfabrik südlich von Leipzig - wieder kommen wir problemlos hinein, treffen Frauen und Männer, die dort arbeiten. Eine 70-Jährige erzählt, sie brauche das Geld, weil die Rente zu knapp ist. Und ein 18-Jähriger präsentiert Maschinen, von denen er weiß, dass sie schon ein halbes Jahrhundert alt waren, als er geboren wurde. Wir können nicht fassen, in welchem Dreck und Lärm dort geschuftet wird. Aber das Land braucht die Brikett aus dem eigenen Tagebau. Sie ist minderwertig, muss aber nicht für teure Devisen eingekauft werden.

Dresden, eine der nächsten Stationen, ist in dieser Zeit immer noch vom Krieg gezeichnet, die Trümmer der Frauenkirche türmen sich mitten in der Stadt. Offenbar gibt es keine Hoffnung, irgendwann einmal mit dem Wiederaufbau beginnen zu können - was 25 Jahre später jedoch Wirklichkeit sein wird. Damals nicht vorstellbar. Was der Krieg nicht zerstört hatte, erledigte die Staatsführung: Riesige Plattenbauten (einer davon der größte der DDR) ragen in die City - hässliche Zweckbauten, schon vom Zerfall gezeichnet: Schmutziger Beton prägt Dresdens Stadtbild - von einem wieder aufgebauten Taschenberg Palais oder kühl gestylten Einkaufspalästen nahe des Altmarktes konnte man damals nicht einmal träumen.

Auch nicht von sauberer Luft. Denn über dem gesamten Land liegt in dieser typische Geruch, Egal, ob in Halle oder Leipzig, in Wernigerode im Harz oder nahe der polnischen Grenze: dieser Mief aus verbrannter Braunkohle und Zweitaktmotoren. Er bedeckt das Land wie eine dicke, graue Decke. Prägt sogar das Bild, weil die Rauchschwaden, je nach Wetterlage, zwischen den Häusern und über der Landschaft hängen und der Staub auf allem haftet. Farben gibt es wenig. Die Autos sind grau, beige und manchmal fahren sie in einem für uns kuriosen grün vor. Fassaden sind selten gestrichen, bestenfalls verputzt, vom Dreck aus der Luft einheitlich schmutzig.

Und heute? Braunkohle wird nicht mehr verbrannt, Trabis sind nur noch Exoten, die Wiedervereinigung brachte vieles, auch Ernüchterung und Desillusionierung - aber auf jeden Fall brachte sie bessere Luft und Farbe ins Land und in das gesamte Leben. Helmut Kohl, der Kanzler jener Jahre sprach von blühenden Landschaften - und behielt zumindest bei der Optik recht: Das Grau-in-Grau-Land DDR ist heute verschwunden. Perfekte Autobahnen ziehen sich durchs Land, wo damals Kopfsteinpflasterpisten den Wagen und die Insassen peinigten.

1989 sehen wir in Görlitz und Wernigerode den puren Verfall, nur in Teilen sind die alten Bauwerke gerettet worden, vieles steht kurz vor dem Zusammenbruch, ist unbewohnbar. Das müssen einst wunderbare Städte gewesen sein, denken wir - und jetzt erleben wir, dass sie es wieder sind. Beide Städte, echte Schatzkästchen, spielen nun in einer Liga mit Dinkelsbühl oder Rothenburg ob der Tauber. Selbst das am Ende des Krieges größtenteils zerstörte Dresden hat in Teilen wieder sein altes Stadtbild. Tausende Touristen flanieren staunend zwischen Semper-Oper, Residenz, Zwinger, Altmarkt und Taschenberg Palais.

Die Chemie-Wüsten rund um Wolfen und Bitterfeld sind Vergangenheit, aber ihre Spuren nicht. Riesige Flächen liegen brach, und der Natur darauf sieht man auch heute noch an, dass sie den Kampf gegen das Gift im Boden nicht gewonnen hat. Aus der Hauptverwaltung der Orwo ist das Rathaus der Stadt Bitterfeld-Wolfen geworden, ein damals schon prachtvoller Bau in einer zeitlosen Bauhaus-Architektur. Städte wie Eisleben und Sangerhausen besinnen sich auf Historie, haben ihrer alten Substanz neuen Glanz verliehen - und werben mit dem Namenszusatz Lutherstadt.

Und wer will, der kann die alte Grenze bestaunen. Der kleine Ort Hötensleben südlich von Helmstedt, damals unmittelbar hinter dem Todesstreifen liegend, hat ein paar hundert Meter des Betonmonsters mit "spanischen Reitern", Kolonnenweg, Wachturm und Metallzaun erhalten und zu einer Art Freiluftmuseum gemacht. Wir treffen dort Monika (47) und Thomas Rynders (46) aus Xanten. Ihr Sohn Nils (6) hat einen Bericht über die DDR in der Sendung mit der Maus gesehen. Danach wollte er sehen, wie das war. Sein Vater erklärt es ihm - aber vorstellen kann der Knirps sich das nicht, die Sache mit der DDR.

(RP)
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