Analphabetismus in Deutschland 7,5 Millionen Bürger können nicht richtig lesen

Münster (RPO). Rund 7,5 Millionen Deutsche im erwerbsfähigen Alter können nicht richtig lesen und schreiben. Dennoch geht mehr als die Hälfte von ihnen einer geregelten Arbeit nach. Dies wird in einer Gesellschaft, in der Schrift allgegenwärtig ist, zunehmend schwieriger.

Der Bundesverband Alphabetisierung mit Sitz in Münster setzt sich für die Betroffenen ein. Das Problem sind oft nicht die einzelnen Buchstaben, vielmehr sind es die Worte.

Was das Lesen für viele Betroffene so schwer macht, erklärt Verbands-Geschäftsführer Peter Hubertus anhand eines Beispiels: "Für einen Analphabeten fängt das Wort Stuhl nicht mit S an." Weil der Anfangsbuchstabe "Es" ausgesprochen werde, hieße das Wort im Verständnis eines Menschen mit Leseschwäche "Estuhl".

Neu ist das Problem des Analphabetismus nicht. Nur fallen die Schwächen in der heutigen Gesellschaft stärker auf. "Die Nischen in der Arbeitswelt, in denen man ohne Lesen und Schreiben zurechtkommt, verschwinden langsam", sagt Hubertus.

Wer nicht lesen kann, kann auch nicht schreiben

Die Gründe für Analphabetismus liegen seiner Meinung nach in den Bereichen Schule und Familie sowie in der individuellen Entwicklung. Seit der PISA-Studie sei bekannt, dass jeder zehnte Schüler nicht richtig lesen könne. "Die, die beim Lesen so schlecht abgeschnitten haben, kommen mit dem Schreiben erst recht nicht klar", sagt Hubertus, der eine stärkere individuelle Förderung in den Schulen fordert.

Junge Analphabeten machen auch wegen ihrer schlechten Erfahrungen in der Schule nur einen kleinen Teil der jährlich ohnehin bloß 20.000 Teilnehmer in den Lese- und Schreibkursen aus, die an den Volkshochschulen angeboten werden.

Noch entscheidender als die Schule ist seiner Ansicht nach die soziale Herkunft. "Die Probleme werden sozial vererbt", sagt Hubertus, der 21 Jahre in der Erwachsenenbildung tätig war. Seine Erklärung ist denkbar einfach: Wie sollen Eltern, die selbst nicht lesen und schreiben können, ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen oder ihnen Geschichten vorlesen?

Die Politik habe das Problem erkannt, doch weil Bildung Ländersache ist, sei es "schwieriger eine Bildungsoffensive zu starten", sagt Hubertus. Der Bund hat für den Zeitraum von 2007 bis 2012 insgesamt 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt und damit mehr als 100 Projekte wie die "leo. Level-One Studie" finanziert. Diese lieferte Anfang des Jahres erstmals verlässliche Zahlen über die Verbreitung von Analphabetismus in Deutschland.

Ziel der Unesco kaum erreichbar

Die Vereinten Nationen haben sogar eine Weltalphabetisierungsdekade (2003-2012) ausgerufen und als Ziel ausgegeben, die Zahl der Analphabeten weltweit bis 2015 zu halbieren. Die Zwischenbilanz ist eher ernüchternd. Laut Unesco ist ihre Zahl zwar seit dem Jahr 2000 von etwa 860 Millionen um mehr als 60 Millionen gesunken. Doch die Organisation selbst rechnet angesichts der ins Stocken geratenen Entwicklung damit, dass im Jahr 2015 noch etwa 710 Millionen Menschen nicht lesen und schreiben können.

In Deutschland soll der Problematik mit einem Grundbildungspakt begegnet werden. Dessen Ziel ist es, unter anderem Arbeitgeber, Gewerkschaften, Verbände und die Bundesagentur für Arbeit in das Bemühen mit einzubinden. Hubertus, der am ersten Treffen auf Arbeitsebene Ende August teilgenommen hat, drängt auf eine schnelle Einigung.

Denn die Förderprogramme des Bundes laufen 2012 aus. Für die Zeit bis 2014 stellt das Bundesbildungsministerium im Rahmen des Grundbildungdpaktes noch einmal 20 Millionen Euro in Aussicht. Doch Hubertus fürchtet, dass die Koppelung der Gelder an das Bündnis zu Verzögerungen führen und deshalb das Aus von Projekten wie "iChance" bedeuten könne. Mit dieser Internetplattform will der Bundesverband vor allem junge Analphabeten erreichen und hat dafür zahlreiche prominente Unterstützer gewonnen.

"Meines Erachtens haben wir keine Zeit zu verlieren", sagt Hubertus. Die ursprünglich für Oktober geplante Verabschiedung des Paktes wird seiner Ansicht nach kaum einzuhalten sein. Laut Bundesbildungsministerium ist der Gründungstermin noch offen. Entscheidend für den Erfolg eines solchen Bündnisses seien Inhalte und nicht die Frage, ob es im Oktober oder November zum Abschluss komme, hieß es aus Berlin.

(apd/felt)
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