Nach der Bluttat von Schwalmtal 90.000 potenzielle menschliche Tragödien

Düsseldorf (RP). Täglich erleben in Deutschland etwa 250 Hausbesitzer, wie ihr Domizil unter den Hammer kommt. Häufig stecken Arbeitslosigkeit, Scheidungen oder Erbstreitigkeiten hinter den gerichtlich angeordneten Immobilienverkäufen. Für die Betroffenen ist der Verlust des Eigenheims ein Trauma. Viele verfallen in Depressionen, einige reagieren mit Gewalt.

Schwalmtal - der Tag danach
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Die Explosion ließ die gesamt Straße erbeben. Trümmer des schmucken Einfamilienhauses im bayerischen Inzell flogen Hunderte Meter weit durch die Luft. In den Überresten des Hauses barg die Feuerwehr die Leichen der Bewohner, einer 67-jährigen Frau und ihres 75-jährigen Ehemanns. Offensichtlich hatten die beiden alten Menschen sich selbst in die Luft gejagt — fünf Tage, bevor ihr Haus zwangsversteigert werden sollte.

Die Verzweiflungstat von Inzell, das war vor zwei Wochen. Jetzt das tödliche Familiendrama von Schwalmtal. Zwei Fälle von zerstörerischer Gewalt, und beide Male war vermutlich eine bevorstehende Zwangsversteigerung der Auslöser. Von denen gibt es immer mehr. So kamen von Januar bis Ende Juli in Schwalmtal 31 Immobilien unter den Hammer. Im Vorjahreszeitraum waren es nur 17 gewesen.

Dramatisch steigende Zahlen

Ein Trend: In ganz Deutschland hat sich die Zahl der gerichtlich angeordneten Immobilienverkäufe in den vergangenen Jahren dramatisch erhöht. Waren es 1992 noch bescheidene 20.800 Objekte, die in die Zwangsversteigerung kamen, wurden 2000 bereits 57.600 Immobilien an den Meistbietenden verscherbelt. Im vergangenen Jahr fanden gut 88.000 Zwangsversteigerungen statt.

Hinter diesen Zahlen verbergen sich Tausende Einzelschicksale. Doch es gibt viele Gemeinsamkeiten: Arbeitslosigkeit spielt oft eine Rolle, Scheidung oder Krankheit. Und häufig genug hat sich jemand bei der Finanzierung völlig verschätzt.

Zwar gab es zuletzt eine leichte Abnahme der Zwangsversteigerungen, aber die Wirtschaftskrise wird die Bieter-Säle schon bald wieder füllen, glaubt Winfried Aufterbeck. Der Geschäftsführer des Ratinger Argetra-Verlags veröffentlicht regelmäßig sämtliche Zwangsversteigerungstermine der deutschen Amtsgerichte — ein untrügliches Krisenbarometer. "Das ist wie eine Bugwelle", sagt Aufterbeck.

Neun bis 18 Monate dauert es, bis eine ökonomische Krise, besonders wenn sie Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat, bei den Amtsgerichten ankommt. "Das ist eine zwangsläufige Entwicklung", sagt Aufterbeck. Ende 2010 wird man sehen, wie viele Träume vom Wohneigentum in der Krise endgültig geplatzt sind. Die Zahl könnte, schätzt der Argetra-Chef, "auf deutlich über 90 000 steigen".

90.000 potenzielle menschliche Tragödien

90.000 Zwangsversteigerungen, das sind 90.000 potenzielle menschliche Tragödien. "Da scheitern häufig Lebensträume", sagt die Neusser Psychologin Susanne Altweger. "Ein Haus, eine Wohnung, das ist ja für viele Menschen wie ein erweitertes Ich. Wenn man es ihnen wegnimmt, bricht eine Welt zusammen." Gerade für ältere Menschen, namentlich die noch von Flucht und Armut geprägte Kriegsgeneration, stehe Immobilienbesitz zudem auch für ein Gefühl von Sicherheit. Andere leiden unter dem Prestigeverlust, dem häufig mit dem Wohnungsverlust verbundenen sozialen Abstieg.

"Das ist wie ein tief sitzende Kränkung", sagt Psychologin Altweger. "Man muss sich eingestehen, dass man sich verhoben hat, dass man vielleicht auf die falschen Leute gehört hat." Viele Betroffene fühlten sich mit den Rücken zur Wand, sehen keinen Ausweg mehr, glauben sich umgeben von Feinden. Und dann kann es zu Depressionen kommen, aber auch zu gefährlichen Kurzschlussreaktionen, zu Gewalt.

Dabei ließe sich die explosive Situation im Zusammenhang mit einer sich anbahnenden Zwangsversteigerung häufig entschärfen, glaubt Winfried Aufterbeck. Denn der Termin für eine Zwangsversteigerung bedeute noch nicht das endgültige Aus. "Jeder fünfte Versteigerungstermin kann irgendwie noch abgewendet werden, zumindest für eine Weile", sagt Aufterbeck.

70 bis 85 Prozent des Wertes sind weg

Die Zeitspanne zwischender Beschlagnahmung eines Objekts und dem Versteigerungstermin beträgt in den meisten Fällen ein gutes Jahr. Schuldnerberatung, Notverkäufe, Sozialdarlehen oder Verhandlungen über eine Senkung der Monatsrate können den Verlust der eigenen vier Wände verhindern. "Auch die Banken haben verstanden, dass sie unterm Strich besser fahren, wenn sie eine Zwangversteigerung vermeiden können", so Aufterbeck. Denn wenn eine Immobile erst einmal unter den Hammer kommt, sind deftige Einbußen beim Verkaufserlös programmiert.

"Eine Eigentumswohnung geht meist für 60 bis 75 Prozent des Verkehrswertes weg, ein Einfamilienhaus für 70 bis 85 Prozent." Einige Banken, so verrät Aufterbeck, würden sich inzwischen mit 80 Prozent ihrer säumigen Hypotheken-Zahler einvernehmlich auf einen Verkauf über den normalen Markt einigen, bei dem gewöhnlich wesentlich lukrativere Preise erzielt werden. Ein guter Deal für beide Seiten: "Das verringert ja auch die Schuldenlast, die die Betroffenen sonst häufig für den Rest ihres Lebens mit sich herumschleppen müssten", sagt Aufterbeck.

Voraussetzung ist, dass beide Seiten das Gespräch suchen. Fatalerweise reagieren viele in Schwierigkeiten geratene Hausbesitzer auf die ersten Mahnschreiben der Bank jedoch mit Verdrängung, hat Susanne Altweger beobachtet. "Da werden Briefe gar nicht erst geöffnet, auf Anrufe nicht geantwortet, bis irgendwann der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht." Ihr Rat: Auf keinen Fall den Kopf in den Sand stecken, sondern sich die Lage eingestehen und handeln. "Sich in die Opferrolle zurückzuziehen, macht alles nur noch schlimmer", warnt die Psychologin.

(RP)
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