Babyboom in Nachkriegs-Deutschland 1964 — das Jahr der 1.357.304 Babys

Düsseldorf · Was haben Fußballtrainer Jürgen Klinsmann, Henkel-Personalchefin Kathrin Menges, Komiker Hape Kerkeling und Schauspielerin Martina Gedeck gemeinsam? Sie alle wurden 1964 geboren, zusammen mit 1.357.300 weiteren Babys in Deutschland. Als Generation der Vielen werden die Babyboomer das Land noch lange prägen. Wir beschreiben, wie sie wurden, was sie sind.

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1964 liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs noch nicht so lange zurück wie die Wiedervereinigung heute. US-Präsident Lyndon B. Johnson erhält in jenem Jahr vom Kongress die Vollmacht zur amerikanischen Beteiligung am Vietnamkrieg. In Südafrika wandert Nelson Mandela wegen "Subversion und Sabotage" für Jahrzehnte ins Gefängnis. In England veröffentlichen die Rolling Stones ihre erste Langspielplatte. Und die Deutschen? Sie führen im Westen ihres geteilten Landes den Zebrastreifen ein, im Osten die Reisefreiheit für Rentner. Und zusammen setzen sie so viele Kinder in die Welt, wie nie zuvor und niemals wieder in der Nachkriegsgeschichte.

1.357.304 Babys werden 1964 geboren, lebend, denn nur so zählen sie für die Statistiker. Das sind jeden Tag 3708, jede Stunde 155. Heute ist die Geburtenrate von damals halbiert. Männer, die in diesen Tagen 50 werden, heißen meistens Michael, Andreas, Stefan oder Thomas. Bei den 50-jährigen Frauen führen Sabine, Martina, Heike und Susanne die Liste der häufigsten Vornamen an. Es ist die Generation der Vielen, der "Babyboomer", wie sie später genannt werden wird. Gemeint sind vor allem die Jahrgänge 1960 bis 1968, in denen die Geburtenrate jeweils bei über 1,2 Millionen liegt. 1964 ist der absolute Höhepunkt erreicht, vier Jahre später setzt die Anti-Baby-Pille dem Boom ein jähes Ende.

Doch vor einem halben Jahrhundert sind die Schulklassen auch ohne den Rekord-Jahrgang schon brechend voll. Über 40 Kinder in einem Unterrichtsraum sind nicht die Ausnahme. Es ist die Regel. Es gibt kein Facebook, aber es gibt die Straße, die noch nicht so verstopft ist mit Autos wie heute. Am Nachmittag wird gespielt, getobt, gebolzt, am heftigsten in den Neubausiedlungen, von denen es nie wieder so viele geben wird wie in dieser Zeit.

Statussymbol der Heranwachsenden ist nicht das Handy, sondern das Fahrrad. Es geht laut zu, die Älteren im Land stöhnen, auch wegen der ganzen Dumme-Jungen-Streiche. Nur am Wochenende, wenn "Daktari" (samstags um 17.45 Uhr im Zweiten) oder "Bonanza" (sonntags um 18.10 Uhr, ebenfalls ZDF) im Fernsehen laufen, ist "draußen" vergessen. Sendungen wie "Wünsch dir was" oder "Einer wird gewinnen" versammeln regelmäßig die ganze Familie vor der Mattscheibe. Es ist eine Zeit des starken Miteinanders, des Eng-Zusammenrückens. Später, in der Ausbildung und im Job, gilt es für die Jungen dagegen, in der Masse nicht unterzugehen.

Die Weltwirtschaft wächst 1964 um sagenhafte 7,3 Prozent. Am 10. September 1964 wird der verdatterte Armando Rodrigues de Sá aus Portugal bei seiner Ankunft am Köln-Deutzer Bahnhof als einmillionster Gastarbeiter stürmisch gefeiert und mit einem Moped bedacht. Kein Wunder, dass die Eltern der Babyboomer ihren Kindern die Zukunft in leuchtenden Farben ausmalen. Alles scheint möglich: Reisen, ein eigenes Auto, das Eigenheim, ein sicherer, gut bezahlter Arbeitsplatz. Dass Menschen auf dem Mond landen. Die Eltern der Babyboomer sind zugleich die, die Helmut Kohl 1983 als jene unbeschwerte Deutsche beschreiben wird, denen die "Gnade der späten Geburt" zuteilwurde: Männer und Frauen, um 1930 geboren und somit kaum mitschuldig an den Verbrechen des Nationalsozialismus.

Hier nun liegt einer der Schlüssel zum Selbstverständnis der 1964 Geborenen, das sich so sehr von dem der rebellischen "68er" unterscheidet, die anderthalb Dekaden zuvor das Licht der Welt erblickt hatten. Die Babyboomer haben einfach weniger Gründe, aufzubegehren gegen die Altvorderen, die in Teilen eine Generation von Tätern oder Mitläufern gewesen war. Die dunkle Vergangenheit betrifft sie nicht mehr unmittelbar. In der Welt, in der sie leben, lässt es sich vielmehr gut aushalten, sie ist überschaubar und erstaunlich konstant: Der VW Golf bleibt 40 Jahre Golf, Helmut Kohl 16 Jahre Kanzler, der Kalte Krieg bleibt kalt, die Mauer 28 Jahre undurchlässig. Und Mainz bleibt Mainz. Kein gesellschaftliches Klima, um Revolutionen vom Zaun zu brechen. Keine große Herausforderung in Sicht, die von vielen gemeinsam gemeistert werden müsste.

Sicher: Schrille Punks tauchen in den 80er und 90er Jahren vermehrt auch in deutschen Innenstädten auf, und die Musik der "Toten Hosen" aus jenen Tagen klingt zweifellos rebellischer als heute. Andererseits konnten nur die behüteten Babyboomer eine — wenn auch kurzlebige — Subkultur der "Popper" hervorbringen, die sich Ende der 70er von Hamburg aus ausbreitete und durch ebenso klassisch wie teuer gekleidete junge Frauen und Männer Aufsehen erregte, die sich betont konformistisch und unpolitisch gaben. Ihr Motto "Sehen und gesehen werden, ist des Poppers Glück auf Erden", zielte gegen jene, die eine konsumkritische oder alternative Lebensform pflegten.

"Unser politisches Bewusstsein entwickelte sich spät, dafür stürzten wir uns enthusiastisch in die große Party der 80er Jahre und hatten wirklich jede Menge Spaß!", erinnert sich Rebecca Gablé, Schriftstellerin aus Mönchengladbach und selbst Jahrgang 1964. "Wir waren die Nutznießer der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die die Studenten- und die Frauenbewegung herbeigeführt hatten, aber nur wenige von uns haben die Fackel weitergetragen."

Der 1965 geborene Buchautor Jochen Arntz ("1964 - Deutschlands stärkster Jahrgang") ist überzeugt: Die Kinder der 60er verbindet sogar eine starke Skepsis gegenüber den Alt-68ern: "Weil diese Vorgängergeneration damals schon alles besser wusste und heute noch immer alles besser weiß. Wer das nicht mag, wird pragmatisch, nüchtern - auch das eint die Babyboomer. Sie haben erfahren, dass es nicht immer besser werden kann."

Deutlich härter fällt das Urteil von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher aus, der den Fall Christian Wulff (Jahrgang 1959) Anfang 2012 zum Anlass für eine Generalabrechnung mit den "Boomern" genommen hat: Wulff habe als "Angehöriger dieser Generation das Höchste erreicht und in nie gesehener Geschwindigkeit alles vermasselt". Und während auch Guido Westerwelle (Jahrgang 1961), Roland Koch (1958), Stefan Mappus (1966) oder Dieter Althaus (1958) das politische Feld geräumt hätten, reiße der fast 100-jährige Helmut Schmidt ganze Parteitage zu Begeisterungsstürmen hin. Über den Rest befindet Schirrmacher schneidend: "Ihre Skepsis gegenüber Ideologien war wohltuend, aber nur, solange man nicht bemerkte, dass dahinter die Abwesenheit von Ideen überhaupt stand. Es war die Kauf-, nicht die Überzeugungskraft der Babyboomer, die das Antlitz der Gesellschaft veränderte."

Immerhin, es gibt sie doch: junge Friedensbewegte in den 80ern, Atomkraftgegner, Protestler gegen den Bau der Startbahn-West auf dem Frankfurter Flughafen, Hausbesetzer im Widerstand gegen spekulativen Leerstand, ein Heer von Zivildienstleistenden, ohne die die Sozialsysteme bald nicht mehr auskommen. Die Babyboomer sind nicht so unpolitisch, wie man es ihnen nachsagt. Denn die heile Welt, in die sie hineingeboren werden, bleibt in Wahrheit nicht, wie sie ist.

Die Ölkrisen von 1973 und 1979 beenden den Traum vom ungebremsten Wirtschaftswachstum. Die atomare Aufrüstung trägt zuletzt Züge organisierten Wahnsinns. Zeitgleich wird die düstere US-Umweltstudie "Global 2000" zum Bestseller. Viele ängstigt das Waldsterben. Dann, am 26. April 1986, fliegt Tschernobyl in die Luft. Für nicht wenige Babyboomer ist es wie die Vertreibung aus dem Paradies. Hinzu kommt ein immer härter werdender Kampf um Studienplätze, um Jobs, um Wohnraum. All dies mag dazu beitragen, das ausgeprägte Bedürfnis nach Sicherheit, das Streben nach Überschaubarkeit, den Wunsch nach Normalität zu erklären, die charakteristisch sind für diese Generation. Es hilft zu verstehen, wie selbst aus den als Protestbewegung gestarteten Grünen eine durch und durch bürgerliche Partei geworden ist: Ein erheblicher Teil ihrer heutigen Mitglieder kam in den 60er Jahren zur Welt.

Der Historiker Paul Nolte nennt die Babyboomer denn auch eine "sehr unauffällige und normale, auch pragmatische Generation, die einfach da ist, ihre Arbeit macht und den Karren weiterzieht". Eine ihrer prägendsten Erfahrungen sei die Arbeitsmarktkrise gewesen. "Diese Generation ist eigentlich die erste gewesen, die die Erfahrung gemacht hat, dass es ihr nicht mehr unbedingt besser geht als den Eltern."

Trotzdem: Schlecht geht es dieser Generation nicht. Im Gegenteil: Keine war je so groß und so wohlhabend, keine wird auf absehbare Zeit wieder so sein. Und weil sie zugleich die erste Generation in Deutschland ist, die zahlenmäßig die Jüngeren bei Weitem überwiegt, bildet sie inzwischen die wichtigste kommerzielle Zielgruppe. Waren es früher die 18- bis 49-Jährigen, so befinden sich heute die 48- bis 67-Jährigen im Visier der Werber. Tatsächlich verfügen sie allein über die Hälfte der deutschen Kaufkraft. Und es ist ihr Geschmack, der das Angebot des Marktes prägt: New Beetle, New Mini, New Fiat Cinquecento — die Babyboomer sind gern in den modernen Versionen jener Autos unterwegs, in denen sie in ihrer Jugend herumfuhren. Und die eingangs erwähnten Stones? Die meisten von ihnen haben zwar die 70 überschritten, sind aber noch immer auf Tour. Weil die Babyboomer nun mal zu ihren treuesten Fans gehören.

Die Babyboomer werden noch lange das Land als Generation der Vielen prägen. Denn eines übernahmen sie von ihren Eltern nicht: das Modell der Großfamilie. In Rente sollen sie daher erst mit 67 gehen, vielleicht auch erst mit 69 oder gar 70? Im Jahre 2030 wird der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung 29 Prozent ausmachen. Das hat es in Deutschland noch nie gegeben.

Man muss kein Experte sein, um sich auszumalen, was es bedeutet: Die Herausforderungen einer überalterten Gesellschaft können von den Jungen allein nicht bewältigt werden. Auch die "neuen Alten", deren Lebenserwartung und Fitness höher sind als die vorheriger Generationen, werden ihren Beitrag leisten müssen. Gut möglich, dass die, die heute 50 werden, dann noch einmal richtig boomen: als arbeitende Alte.

(RP)
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