Der Fall Lisa Die Hysterie um eine erfundene Entführung

Berlin · Zuletzt machten immer wieder wilde Spekulationen und Halbwahrheiten im Netz die Runde - auch und gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise. Dazu kommen Hasskommentare, falsche Bilder - etwa von vermüllten Zeltplätzen, die fälschlicherweise Flüchtlingslagern zugeordnet werden - oder übertriebene Behauptungen. Der Fall Lisa ist einmal mehr ein Beispiel für Hysterie im Internet - und nicht nur dort.

Erst in dieser Woche gerät der Fall der Berlinerin Lisa zum Politikum. Die Schülerin wird am 11. Januar als vermisst gemeldet. Nach 30 Stunden taucht sie wieder auf. Später kursiert im Netz das Gerücht, sie sei von südländisch aussehenden Männern entführt und vergewaltigt worden. Dafür sieht die Polizei keine Anhaltspunkte. In Russland ist der Fall dagegen eine große Story. Sogar Außenminister Sergej Lawrow mischt sich ein. Die Bundesregierung warnt ihrerseits davor, mit Spekulationen Politik zu machen.

Entwickelt sich das Internet zunehmend zu einer Plattform für gefährliche Kurzschlüsse? "Der Mob kennt kein Ob, er kennt nur das Dass", schreibt Jochen Bittner am Donnerstag in einer Kolumne auf "Zeit Online". "Viele Nutzer nehmen sich nicht mehr die Zeit genau hinzuschauen. Manche Beiträge werden nicht mal wirklich gelesen. Die Leute sehen die Überschrift und fangen an loszuwettern", sagt Professor Frank Schwab, Medienpsychologe der Universität Würzburg.

Im Internet werde unglaublich rasant agiert und reagiert. Mit einem Eintrag erreiche man schnell Aufsehen und stehe in der Mitte des Interesses. "Jeder kann immer und überall etwas posten und weiterleiten. Das geschieht manchmal unüberlegt und oft ungeprüft", sagt Schwab. "Denn in den sozialen Netzwerken vertrauen wir gerne unseren Bekannten."

Im Fall des angeblichen toten syrischen Flüchtlings vom Lageso in Berlin erklärte "Moabit hilft" am Donnerstag auf Facebook: Den Helfer, der den Fall erfunden hat, hätte man in den vergangenen Monaten als "verlässlichen und integren Unterstützer an unserer Seite" kennengelernt. Noch am Mittwoch hatte das Bündnis bekräftigt, derzeit nicht an den Angaben des Mannes zu zweifeln. Seit dem Morgen hatten zahlreiche Medien - auch die dpa - mit der Quelle "Moabit hilft" berichtet.

"Die klassischen Medien stehen unter einem enormen Druck, zu reagieren", sagte die Leiterin des Grimme-Instituts, Frauke Gerlach. Nicht zuletzt, weil sie sonst einem Aufschrei im Netz ausgeliefert seien, die Wahrheit zu unterdrücken. "Das ist eine Zwickmühle, die sich nur schwer auflösen lässt." Journalistisches Handwerk wie gründliche Recherche und Überprüfung der Quellen seien weiterhin dringend nötig - aber auch eine gewisse Ruhe und Unaufgeregtheit seien wichtig. "Medien müssen sich dieser Dynamik entziehen, und auch aushalten, dass man vielleicht erst etwas später dran ist."

(felt/dpa)
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