Essay Es gibt viel zu tun — fangen wir endlich an!

Düsseldorf · Eigentlich müssten sich viele Dinge ändern. Tun sie aber nicht. Weil sich die Dinge nie von selber ändern. Ändern können sie nur wir. Aber wie? Gedanken für die Neujahrsnacht.

 Die Redaktion wünscht einen guten Rutsch und ein frohes und erfolgreiches 2017!

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Foto: dpa, jka

Der 31. Oktober 1517 ist vielleicht ein neblig-kalter Tag, als Martin Luther zur Schlosskirche der Residenzstadt Wittenberg im heutigen Sachsen-Anhalt stürmt. Dem barocken Mann sind die herbstlichen Temperaturen egal, ihn wärmt ein inneres Feuer. Die eine Faust umklammert eine Rolle Papier, die andere einen Hammer. Am Portal angekommen, drischt der 33 Jahre alte Doktor der Theologie Nägel ins Holz, daran befestigt: 95 Thesen wider den Ablasshandel. Genugtuung steht ihm ins flächige Gesicht geschrieben: Das wird alles ändern.

So soll es sich zugetragen haben, vor bald 500 Jahren. Aber so ist es vermutlich nicht gewesen. Martin Luther stand weder der Sinn nach Drama, noch trieb es den jungen Vikar, sich einen Platz in der Historie zu verschaffen, indem einer wie er mal eben das Papsttum aus den Angeln hebt. Es ging ihm schlicht gegen den Strich, dass Buße durch Bares ersetzt worden war. Das entsprach nicht seinem Verständnis von der Gnade Gottes. Und so setzte er sich hin und schrieb einen kritischen Brief an seinen zuständigen Vorgesetzten, den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, dem er 95 Thesen als Argumentationsgrundlage beifügte. Das war's.

Der Entschluss muss da sein

Eher farblos als fulminant klingt diese zweite, wahrscheinlichere Variante der Geschichte. Aus ihr spricht weder der Anfang von etwas Großem noch ein Drehbuch für das, was sich anschließend abspielen sollte. Der noch blasse Held erntet nicht einmal spontanen Beifall. Und trotzdem setzt er mit seinem Schreiben etwas in Gang, das bis heute nachwirkt.

Wie so oft beginnt ein politisches Erdbeben im Kleinen. Mit einer Ahnung, dass etwas schiefläuft. Mit der Beobachtung, dass das keinen schert. Mit dem Entschluss, etwas zu tun.

Bis es so weit ist, kann es dauern. Menschen sind Gewohnheitstiere. Bequem sind sie auch. Mutig längst nicht alle. Konsequent sowieso nicht. Weil es schon immer mehr Leute gegeben hat, die warten, bis einer sich aufrafft, etwas zu ändern, als solche, die tatsächlich anfangen, etwas zu bewegen, existieren überhaupt herausragende Persönlichkeiten, Macher, Vorbilder, Helden. Das Geheimnis, wie man dazu wird, lüftete Franz von Assisi vor über 800 Jahren: "Beginne mit dem Notwendigen. Dann mit dem Möglichen. Und plötzlich wirst du das Unmögliche tun."

Vermutlich hatte Rosa Parks diesen Rat nicht parat, als sie am 1. Dezember 1955 in Montgomery, Alabama, mit dem Bus fuhr. Doch die Afroamerikanerin weigerte sich, ihren Platz für einen weißen Fahrgast zu räumen. Sie wurde verhaftet und zu zehn Dollar Strafe verurteilt. Die Gerichtskosten von vier Dollar hatte sie ebenfalls zu tragen. Allerdings organisierte ein damals relativ unbekannter Baptistenprediger namens Martin Luther King daraufhin einen Boykott der Buslinie, der die Behörden zwang, die Rassentrennung aufzuheben. Parks wurde zur Ikone der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Sie hatte etwas getan, was ihr notwendig erschien.

Die meisten jedoch beginnen nicht einmal mit dem Notwendigen. Sie schieben Dinge vor sich her. Blenden aus, was drängt. Warten, bis die Welt sich ändert. Die Ursache dafür sitzt tief in unserem Inneren. Die Realität wirkt oftmals nahezu unerträglich: zu viele Tote, zu viele Arme, zu viel CO2, zu wenig Frieden, zu wenig Bildung, zu wenig Gerechtigkeit — eine Zumutung.

Verhalten ändern

Diesem ungemütlichen Gefühlszustand, den Psychologen kognitive Dissonanz nennen, rücken wir mit einer ganzen Reihe von Tricks zu Leibe. Wir denken uns die Realität nur noch halb so schlimm. Höchstens. Wir sagen: Was drücken Statistiken schon aus? Wir schütteln den Kopf: Wie oft sind Meldungen übertrieben? Wir reden uns ein: Das wird schon wieder. Sehr beliebt auch: "Mal sehen, was die anderen so machen". Macht aber keiner was, mal wieder. Man kann diesen Zustand der inneren Unausgeglichenheit auch dadurch mildern, dass man ein Gläschen trinkt. Oder zwei. Das wiederum machen viele. Wie auch immer: So wird Verhalten bestätigt, nicht verändert.

Wer sich jedoch den franziskanischen Dreischritt vom Notwendigen, Möglichen und schließlich Unmöglichen vor Augen führt, der ahnt: Veränderungen beginnen bei einem selbst. Wer also die Welt zu einem besseren Ort machen will, der sollte zuerst versuchen, ein anderer Mensch zu werden.

Spürt man den Worten von Franziskus nach, dann begegnen einem rasch ein paar alte Bekannte, die das verblüffend ähnlich sahen: "Alle wollen die Welt verändern, aber keiner sich selbst" (Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi, 1828—1910, russischer Romanautor). "Jene, die nicht bereit sind, ihr Denken zu ändern, vermögen überhaupt nie etwas zu ändern" (George Bernard Shaw, 1856—1950, Literaturnobelpreisträger). "Schaffe erst Frieden in dir selbst. Dann kannst du ihn auch zu anderen bringen" (Thomas von Kempen, 1380—1471, Augustiner-Chorherr und Mystiker).

Ob hemdsärmelig vorgebracht wie vom großen amerikanischen Schriftsteller Mark Twain ("Eine Angewohnheit kann man nicht aus dem Fenster werfen. Man muss sie die Treppe hinunterboxen, Stufe für Stufe") oder hintergründig formuliert wie vom deutschen Dichter Friedrich Hebbel ("Es gehört oft mehr Mut dazu, seine Meinung zu ändern, als ihr treu zu bleiben") — die Botschaft ist immer dieselbe: "Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es" (Erich Kästner).

Doch fährt keine dieser Einsichten derart ins Herz wie die letzte Zeile des Gedichtes "Archaischer Torso Apollos" von Rainer Maria Rilke, wo es am Ende einer Betrachtung der erhaben-verletzten, bruchstückhaften Marmorstatue des Gottes der Dichtkunst heißt: "Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern."

Du musst dein Leben ändern, dieser messerscharfe Imperativ legt das zentrale Thema des Daseins frei, auch wenn Manchem dieser Satz pathetisch, peinlich, abgestanden erscheint. Man kann ihn inzwischen als Verballhornung auf Kaffeebechern lesen: "Du musst dein Ändern leben." Aber der eigentliche Witz daran ist, dass das der Bedeutung keinen Abbruch tut.

"Du musst dein Leben ändern!"

Die Wucht dieser Worte muss auch Peter Sloterdijk ergriffen haben, denn er hat mit ihnen einen Essay von nicht weniger als 700 Seiten überschrieben. Die These des Karlsruher Philosophen lässt sich glücklicherweise komprimieren: Fortschritt findet nur dann statt, wenn Menschen aus Gewohnheiten ausbrechen, Bequemlichkeiten ablegen und sich dem Prinzip des beständigen Übens unterwerfen. "Du musst dein Leben ändern" kreist um die Kraft, mit der Menschen sich selbst formen. Religion oder Philosophie werden dabei als Beweggründe schwächer. Was angesichts der Zustände auf dem Planeten bleibt, ist nackte Notwendigkeit.

Wenn Übung Auftrag ist, dann wäre es an der Zeit, mal das Üben zu üben. Womit anfangen? Vielleicht den Italienischkurs zu Ende führen, der vor langer Zeit abgebrochen wurde. Oder alles, was sich im Haus befindet, einmal in die Hand nehmen und überlegen, ob man es noch haben will. Abnehmen. Mit dem Fahrrad ins Büro fahren. Sich beim Yoga-Kurs anmelden. Das Buch "Bildung" von Dietrich Schwanitz bis zum 31. Dezember 2017 von vorne bis hinten durchlesen (Goldmann, 550 Seiten, 14 Euro).

Sodann: ein altes Zerwürfnis kitten. Seinem Bundestagsabgeordneten einen Besuch abstatten. Einem Flüchtling Deutsch beibringen. Eine Bewerbung für einen neuen Job schreiben. Laut widersprechen, wenn jemand dummes Zeug redet. Eine Patenschaft für ein Ausbildungsprojekt in der Dritten Welt übernehmen. Natürlich nicht alles auf einmal.

Kluge Eleanor Roosevelt

Spätestens an diesem Punkt sind wir nicht mehr weit vom Unmöglichen entfernt. Zumindest weiß man nun, was Eleanor Roosevelt, die Frau des 32. Präsidenten der Vereinigten Staaten, meinte, als sie sagte: "Tu jeden Tag etwas, wovor du eigentlich Angst hast". Es ist das Gefühl, eine Schwelle überschritten zu haben. Strengt an. Fühlt sich aber gut an.

Was Martin Luther vor fast 500 Jahren verfasste, war eine Art frühneuzeitliche To-do-Liste für eine bessere Kirche. Jeder kann eine für sich aufstellen — für ein Leben, das sich besser anfühlt. Vielleich ändert das mehr als nur einen selbst. Die Liste muss auch keine 95 Punkte umfassen. Ein Zettel an der Tür vom Kühlschrank reicht. Für den Anfang.

(bew)
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