Ratgeber für Flüchtlinge Bedienungsanleitung für Deutschland

Düsseldorf · Wie verhält man sich "richtig" als Neuling in Deutschland? In Ratgebern für Flüchtlinge zeichnen deutsche Autoren das Selbstbild einer Nation, in der sonntags keine Möbel aufgebaut werden.

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Foto: Endermann, Andreas

Diese Bücher sollte man vergraben, und wenn sie dann in 150 Jahren wiederentdeckt werden, können die Menschen lesen, wie das hier einmal war. Die Bücher handeln von dem Dosenpfand- und Rauchverbot-Deutschland, in dem wir leben. Sie heißen "Refugee Guide", also Flüchtlings-Ratgeber, oder schlicht und ergreifend "Deutschland". Gedacht sind die schmalen Bände für ankommende Flüchtlinge, aber wer hier lebt und schon immer einmal wissen wollte, wie Deutschland funktioniert, der sollte diese Bedienungsanleitungen lesen. Sie versuchen, die Gegenwart abzubilden, und zwar im Detail: Fahrkarten werden hierzulande vor Fahrtantritt abgestempelt, wenn die Fenster geöffnet sind, werden die Heizungen ausgeschaltet, und sonntags werden keine Möbel aufgebaut.

Natürlich sind die Empfehlungen und Handlungsanweisungen, die unter dem Eindruck der wachsenden Flüchtlingszahlen entstanden sind und dieser Tage erscheinen, an eine andere Zielgruppe adressiert. Sie sollen Missverständnissen bei den Ankommenden vorbeugen, ihnen helfen, die neue Umgebung zu verstehen. Für deutsche Leser erscheint vieles als Selbstverständlichkeit - auch wenn manche Gedächtnisstütze in Sachen Mülltrennung dem einen oder anderen gleichfalls zupasskommen dürfte.

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Foto: Dieter Weber

Einen "Schnelleinstieg in die deutsche Lebenswirklichkeit" verspricht "Wir schaffen das" von Nikolaus von Wolff und Ameen Alkutainy. Der Crashkurs in Sachen Deutschland versammelt 99 Tipps in drei Sprachen (Arabisch, Englisch und Deutsch) und richtet sich ausdrücklich auch an heimische Leser. "Den Deutschen wollen wir den Spiegel vorhalten", sagt Kommunikationswissenschaftler von Wolff. Wer sein Buch zur Hand nimmt, schafft eine Armlänge Distanz zum Alltag. Es darf verglichen, zugestimmt und widersprochen werden: Kinder spielen in Deutschland nicht im Treppenhaus; Krankenschwestern, Taxifahrern und Kellnern wird mit Respekt begegnet; wer einen Telefonanruf entgegennimmt, sagt zuerst einmal seinen Namen. "Deutschland ist das einzige Land, wo sogar bei privaten Treffen Pünktlichkeit erwartet wird." Er habe sich erlaubt, die Dinge hier und da ein wenig zuzuspitzen, sagt von Wolff.

Seit immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, debattiert die Politik wieder über Leitkultur. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das Grundgesetz ins Arabische übersetzen lassen, also die Grundrechte, die leitende Rechtsnorm. Die Ratgeber hingegen sind ein Geleit zur Alltagskultur. In Deutschland herrsche "das Recht auf freie Meinungsäußerung", solange sie andere Menschen nicht diskriminiere, beleidige oder bedrohe, stellt zwar auch der "Refugee Guide" klar. Zu den persönlichen Freiheiten gehörten aber genauso öffentliche Liebesbekundungen - "dies geht von Händchenhalten über Umarmen und Küssen bis hin zu Kuscheln" - und eine gewisse Freizügigkeit: "Menschen, die im Sommer wenig bekleidet sind, gelten als normal. Dazu gehört beispielsweise das Tragen von T-Shirt und kurzen Hosen."

Entstanden ist der "Refugee Guide" im Internet, fast 100 Menschen haben mitgeschrieben, viele aus dem akademischen Milieu, auch Flüchtlinge waren beteiligt, erzählt Initiator Michael Strautmann. "95 Prozent der Menschen habe ich nie gesehen oder persönlich kennengelernt", sagt der Hamburger Doktorand: "Die Schwarmintelligenz hat sehr gut funktioniert." Nun wurde die Orientierungshilfe, die man im Netz in elf Sprachen von Paschtu bis Serbisch kostenlos herunterladen kann, unter anderem vom Klett-Verlag veröffentlicht. 35.000 viersprachige Gratisexemplare druckte Klett, als "kleinen Beitrag zu einer guten Integration", sagt Geschäftsführerin Elizabeth Webster.

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Foto: dpa, rwe jai

Integration hatte sich wohl auch die Gemeinde Hardheim vorgenommen, als sie kürzlich ihren "Leitfaden für Flüchtlinge" veröffentlichte. Vor allem aber transportiert das Regelwerk Vorurteile. "Unsere Notdurft verrichten wir ausschließlich auf Toiletten, nicht in Gärten und Parks, auch nicht an Hecken und hinter Büschen", heißt es etwa. Es hagelte Kritik. "Der Leitfaden wird auch weiterhin an die Flüchtlinge vermittelt", schreibt Bürgermeister Volker Rohm in einer Stellungnahme. Den Hinweis, dass Mädchen und Frauen im Zweifelsfall niemanden vom Fleck weg heiraten wollen, hat er dennoch lieber wieder gestrichen. Vom Hardheimer Modell distanzieren sich die Ratgeber-Autoren ausdrücklich, zuweilen aber scheinen sie gleichfalls auf Klischees hereinzufallen. Vor allem, wenn es immer wieder um die berühmte deutsche Pünktlichkeit geht. "Es ist eine Gratwanderung", sagt Autor von Wolff. Es sei ihnen bewusst, "dass einige der Hinweise als überheblich oder abwertend empfunden werden können", haben die "Refugee Guide"-Autoren in ihrem letzten Kapitel formuliert. Man habe sich "kontinuierlich kritisch hinterfragt und reflektiert".

Ganz neu sind die Deutschland-Ratgeber übrigens nicht. Im vergangenen Jahr avancierte der "Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland" von 1944 zum Bestseller: Der Besatzer-Knigge versammelte Erschreckendes bis Komisches über Nazi-Deutschland. Empfohlen wurden den Briten ausdrücklich Mett- und Leberwurst sowie Mosel- und Rheinwein.

Skurrilitäten halten auch die neuen Orientierungshilfen vor. Es sei nicht verkehrt, sich mit Persönlichkeiten wie Angela Merkel, Karl Marx und Franz Beckenbauer vertraut zu machen, rät "Wir schaffen das". Dass man im Wartezimmer "Guten Tag" sagt, im Bus wenn überhaupt nur leise telefoniert und sich auch Männer auf der Toilette hinsetzen, liest sich wiederum wie eine Wunschvorstellung der Autoren.

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Foto: dpa, fg nic

Wie wir leben und leben wollen, verraten die Deutschland-Anleitungen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder das Versprechen, in diesem Land durchzublicken. "Es dauert einige Zeit, um in Deutschland Fuß zu fassen", das ist Nikolaus von Wolffs 99. und somit letzter Tipp. "Geduld mag Ihnen dabei helfen. Eines Tages werden Sie sich aber zu Hause fühlen."

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