Gastbeitrag zur Islam-Debatte Nehmt eure Religion ernster!

Münster · Gastbeitrag Die Debatte darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, hat viel mit uns selbst zu tun. Denn nur wer weiß, wer er ist, und mit seiner Identität sicher ist, hat keine Angst, sich dem "Anderen" zu öffnen - egal ob Christ oder Muslim.

 Imam mit Gebetskette (Symbolbild)

Imam mit Gebetskette (Symbolbild)

Foto: dpa

Die Debatte darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört, hat viel mit uns selbst zu tun. Denn nur wer weiß, wer er ist, und sich seiner Identität sicher ist, hat keine Angst, sich dem "Anderen" zu öffnen - egal ob Christ oder Muslim. Ein Gastbeitrag.

Die viel diskutierte Aussage des neuen Bundesinnenministers Horst Seehofer, wonach der Islam nicht zu Deutschland gehöre, aber die Muslime selbst schon, ist nicht primär an die muslimische Bevölkerung gerichtet. Die eigentlichen Adressaten sind die Wähler, vor allem diejenigen, die man in den letzten Jahren an das rechte Lager verloren hat.

Es steht also ein politisches Kalkül im Hintergrund dieser Aussage. Mit solchen Sätzen kann sich ein Politiker auch klar und medienwirksam positionieren. Nur ist es in diesem Fall nicht unproblematisch, dass man hier Politik auf dem Rücken der Muslime, die man ja immer besser in die Gesellschaft integrieren will, und somit auf dem Rücken des konstruktiven Zusammenhalts in unserer Gesellschaft macht.

Gastautor Mouhanad Khorchide.

Gastautor Mouhanad Khorchide.

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Ich möchte aber genau hier ansetzen und die in meinen Augen eigentliche Herausforderung ansprechen. Und zwar die Tatsache, dass man mit solchen ausgrenzenden Aussagen Wähler gewinnen kann. Das eigentliche Problem liegt meines Erachtens daher weniger in der Aussage Seehofers an sich, sondern in einem wachsenden Diskurs der Identitätsbildung über das Konstruieren von vermeintlichen Feindbildern. In diesem Fall sind es der Islam und die Muslime. Dass über Seehofers Aussage kontrovers diskutiert wird, ist verständlich, aber ich vermisse die eigentliche Diskussion über den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und über die Voraussetzungen für ein gelungenes Zusammenleben von Vielfalt.

Unsere Gesellschaft wird bunter, das ist für uns alle eine Herausforderung. Denn der Mensch empfindet in der Regel eine andere Kultur, die ihm fremd erscheint, als unvertraut und deshalb irritierend. Unter welchen Rahmenbedingungen reagieren wir mit Unbehagen oder Angst auf das, was uns als fremd erscheint? Sicher wenn dieses Fremde uns wirklich schaden will, aber auch dann, wenn wir uns dies nur einbilden, ohne dass es mit der Realität übereinstimmt. Wir fühlen uns auch dann bedroht, wenn wir das Gefühl haben, dass dieser "Andere" uns etwas wegnehmen will, was uns zusteht. Manchmal haben wir aber Unbehagen vor dem Anderen, einfach deshalb, weil es anders ist.

Wenn es um kulturelle Identitäten geht, empfinden wir das Fremde umso mehr als Bedrohung, je mehr wir uns unserer eigenen kulturellen Identität nicht wirklich sicher sind. Dann stellt die Begegnung mit dem Anderen eine Herausforderung dar, ich habe dann Angst, das Wenige, woran ich mich klammere, zu verlieren. Nur wenn ich weiß, wer ich bin, und mir meiner Identität sicher bin, habe ich keine Angst, mich dem Anderen zu öffnen, in ihm das Neue zu sehen. Die Begegnung des Islam mit Europa im Zuge der Arbeiter- und vor Kurzem der Flüchtlingsmigration führte jedoch zu Identitätsverunsicherungen auf beiden Seiten, was statt Nähe Distanz hervorrief.

Das heißt, die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit der eigenen Kultur und mit den eigenen Schwächen und Stärken schafft eine sichere Grundlage für die Begegnung mit dem Anderen, ohne Angst davor zu haben, etwas durch die Begegnung zu verlieren. Alleine die Auseinandersetzung mit der eigenen Kulturgeschichte wird einem zeigen, dass Kulturen und kulturelle Identitäten nicht vom Himmel gefallen sind, sondern dynamische Prozesse waren und sind, die immer offen bleiben und sich im ständigen Wandel befinden. Kulturen und kulturelle Identitäten sind nichts Statisches.

Das Dasein des Eigenen ist erst durch die Ankunft des Fremden möglich. So könnte man Hegels Aussage bezüglich der Entstehung der griechischen Kultur verallgemeinern. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte sagte er: "Wir haben soeben von der Fremdartigkeit als von einem Element des griechischen Geistes gesprochen, und es ist bekannt, dass die Anfänge der Bildung mit der Ankunft der Fremden in Griechenland zusammenhängen."

Auch Europa ist eine ostwestliche Fusion. Dazu bemerkt wiederum Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, "die ganze Kultur des nord-, ost- und westlichen Europas" sei "ein Gewächs aus römisch-griechisch-arabischem Samen". Man darf nicht vergessen, dass der Islam im Mittelalter eine konstitutive Rolle für Europa spielte. Gerade zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert fand eine Hellenisierung des Islam statt. Von dieser führt eine direkte Linie zur europäischen Renaissance: Die Muslime retteten das antike griechische Erbe vor dem Vergessen und bereicherten es. Darauf konnte die Renaissance aufbauen.

Liest ein Muslim im Koran, wird er feststellen, dass fast alle Propheten, die darin vorkommen, biblische Figuren sind. Er wird auch erstaunt sein, wie viele Texte der Spätantike der Koran rezipiert. Auch der Koran will offensichtlich keinen Abbruch mit dem Judentum und dem Christentum machen, im Gegenteil, er sieht sich in deren Tradition.

Ich appelliere daher an alle Akteure in unserer Gesellschaft, unsere eigenen Kulturen, unsere eigenen Religionen, unsere eigene Geschichte und damit uns selbst ernster zu nehmen, und meine, dass dies der erste Schritt ist, um mehr Bereitschaft aufzubringen, sich dem Anderen zu öffnen. Wenn ich zum Beispiel an die vielen Muslime denke, die die eigene innerislamische Vielfalt nicht kennen und daher nicht zu würdigen wissen, dann frage ich mich: Wie soll jemand, der gegenüber der eigenen Vielfalt verschlossen ist, sich anderen öffnen?

Wenn ein Muslim unter Islam nur äußere Elemente wie Moschee, Kopftuch und Speisevorschriften versteht und ein nicht-muslimischer Deutscher unter der abendländisch-christlichen Kultur nur Weihnachten und andere bestimmte Speisen, dann haben sich unsere Identitäten längst ausgehöhlt. Keiner weiß, was ihn wirklich zu dem macht, was er meint zu sein. Und genau an dieser Stelle werden Feindbilder wichtig, um sich in der Ab- und Ausgrenzung zu einem konstruierten "Feindbild" zu definieren.

Gerade das Ethos der Nächstenliebe stellt die Essenz der christlichen sowie der islamischen Religion dar. Praktizieren aber nicht gerade diejenigen auf beiden Seiten, die meinen, ihre jeweilige Religion vor der anderen schützen zu wollen, und sich daher vor diesem anderen verschließen, kaum Nächstenliebe? Sind nicht gerade diese ausgehöhlten religiösen wie nationalen Identitäten die eigentliche Herausforderung, über die wir reden müssen?

Mouhanad Khorchide (46) leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster.

(RP)
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