August 1988 Gladbecker Geiseldrama hält Deutschland in Atem

Siegburg (RP). Im August 1988 hielt eine Entführung Deutschland in Atem. Nach einem gescheiterten Banküberfall in Gladbeck konnten die Berufsverbrecher Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski mit ihren Geiseln 54 Stunden lang nahezu unbehelligt durch Deutschland und die Niederlande fahren.

Es ist eine Szenerie wie in einem Action-Thriller: Auf der Standspur einer abschüssigen Strecke auf der A3 hinter Siegburg steht ein mausgrauer 7er BMW mit dem niederländischen Kennzeichen HR-20-TN. Die Scheiben rundum sind zerschossen, die linke Seite ist zerbeult. Inmitten einer Kolonne von grauen Personenwagen mit aufgerissenen Türen blockiert eine gepanzerte Limousine, ein Rammfahrzeug, die Fahrtrichtung Frankfurt. Vermummte Männer rennen über die Fahrbahn auf einige Dutzend Fotografen und Reporter zu, drängen sie ab. Mitten im Pressepulk antwortet ein Bonner Staatsanwalt auf die Frage eines Journalisten: "Wer liegt unter der weißen Plane?" knapp: "eine Geisel".

Es ist die 18 Jahre alte Silke Bischoff, getötet von einer Kugel aus der Pistole eines Gangsters, Opfer eines beispiellos brutalen Geiseldramas und Vorgeführte in einer dreitägigen, vom Versagen der Behörden genährten Medienhatz. Mit ihrem Tod endete vor 20 Jahren eines der spektakulärsten Verbrechen in der deutschen Geschichte, das "Geiseldrama von Gladbeck".

Begonnen hatte eine bis dahin undenkbare Handlung aus zynischer, krimineller Show, verheerenden Polizei-Pannen und journalistischer Gier am Dienstag, 16. August 1988. Um 7.45 Uhr stürmen zwei bewaffnete Räuber eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck. Sie nehmen zwei Angestellte als Geiseln, fordern 300.000 DM Lösegeld, einen Fluchtwagen und Handschellen. Schon bei den ersten Gesprächen zwischen den im Kassenraum verschanzten Tätern und der Kripo halten Kameras bis heute unvergessene Szenen wie diese fest: Ein nur mit Badehose bekleideter Polizist schiebt das Lösegeld einer kriechenden Geisel mit Fesseln um den Hals zu. Es ist eine erniedrigende Momentaufnahme, der noch ganze Serien von Menschen verachtenden Darstellungen in Fotos und in TV-Bildern folgen sollten.

Die Fahnder erkennen schnell, mit welchem "Kaliber" sie es da zu tun haben: Wortführer Hans-Jürgen Rösner und sein Kumpan Dieter Degowski haben jahrelange Gefängnisaufenthalte hinter sich. Beide präsentieren sich den Journalisten stets mit einer Pistole. Der vollbärtige, tätowierte Rösner, der von elf Jahren Knast berichtet, spricht ins Mikrofon: " Ich bin von Haus aus ein Verbrecher. Ich scheiß auf mein Leben." Dazu schiebt er sich vor den Kameras den Lauf seiner Waffe in den Mund — eine Demonstration, dass er zu allem entschlossen sei.

Am Abend des Überfalls, gegen 22 Uhr, verlassen Rösner und Degowski mit den beiden Bankmitarbeitern in einem von der Polizei gestellten Fluchtwagen den Tatort. Streifenwagen und Reporter auf den Fersen, geht es Richtung Bremen, wo Rösners Freundin Marion Löblich zusteigt. Die Fernsehnation verfolgt ungläubig, wie das Gangster-Duo einen mit 30 Personen besetzten Linienbus kapert, und die hinter weitläufigen Absperrungen harrenden Fahnder in der Rolle von Zuschauern erstarren. Rösner kann die Polizei in der "Tagesschau" als "dreckige, feige Bullen" bezeichnen. Degowski lässt sich mit Silke Bischoff fotografieren — er hält ihr die Pistole an den Hals. Wenige Stunden später schießt er im Bus auf den 15-jährigen Emanuele di Giorgi, der sich schützend über seine Schwester Tatjana (8) gebeugt hatte. Emanuele stirbt vor laufenden Kameras — ein Notarztwagen fehlt im polizeilichen Einsatzkommando.

Auf der folgenden Irrfahrt in die Niederlande lassen die Bankräuber ihre Geiseln frei — bis auf Silke Bischoff und ihre Freundin Ines Voitle, beide 18 Jahre jung. Die niederländische Polizei stellt einen neuen Fluchtwagen. In ihm steuert Rösner nach einem Frühstück in einer Wuppertaler Bäckerei unbehelligt zur Presseshow in die Kölner Innenstadt. "Können wir etwas für Sie tun?", fragen Journalisten und reichen Kaffee mit Gebäck ins Auto.

Wenige Stunden später, am Donnerstag, 18. August 1988 gegen 15 Uhr, endet das Gladbecker Geiseldrama auf der A 3 mit den Todesschüssen. War bis dahin das zum Teil chaotische Verhalten der Einsatzkräfte damit begründet worden, das Leben der Geiseln habe oberste Priorität, so hieß es kurz vor der Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz aus der Kölner Leitstelle: "Es gab den Befehl, die Täter zu fassen."

Die anschließende heftige Debatte befasste sich mit den Pannen bei der Polizei; daneben stand auch die Presse am Pranger. Das erste Ergebnis war eine Änderung des Pressekodex beim Deutschen Presserat. Seitdem sind Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens verboten. Die Presse darf sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen. Wer dennoch mit ihnen spricht, muss mit einer offiziellen Rüge seines Mediums rechnen.

Auch für die Polizei hatte die Geiselnahme Konsequenzen. "Seit Gladbeck gilt die Leitlinie, die Geiselnehmer nie ziehen zu lassen — mit oder ohne Geisel", erklärt Wilfried Albishausen, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Zudem wurden in NRW sechs so genannte Megabehörden in Bielefeld, Münster, Düsseldorf, Köln, Essen und Dortmund geschaffen, die im Fall einer Geiselnahme mobile Spezialkräfte in ihrem Zuständigkeitsgebiet einsetzen. Albishausen: "Auch im Landtag wurde kurz, aber heftig über den finalen Rettungsschuss — einen gezielten Todesschuss — diskutiert." Ins Polizeigesetz hat er es damals nicht geschafft.

Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski wurden nach der Tat zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Mutter von Silke Bischoff leidet "wie am ersten Tag" unter dem tragischen Tod ihrer Tochter.

(RP)
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