Gewalt gegen Polizei und Helfer Die gereizte Gesellschaft

Düsseldorf · In vielen Bereichen ist eine gewachsene Gewaltbereitschaft zu spüren: Angriffe auf Flüchtlingsheime nehmen zu, Polizisten werden im Dienst attackiert, im Internet wird gehetzt. Die Ursachen sind komplex, Lösungen langwierig.

 Ein Demonstrant greift in Lübeck 2011 einen Polizisten an. Derartige Vorfälle häufen sich inzwischen.

Ein Demonstrant greift in Lübeck 2011 einen Polizisten an. Derartige Vorfälle häufen sich inzwischen.

Foto: dpa

Die Zahlen und Zeichen sind alarmierend. Seit 2011 stieg nach Angaben des Landeskriminalamtes die Zahl der Übergriffe auf Polizisten und Rettungskräfte in NRW von 6186 auf 8109 im Jahr 2015. Mehr als 1100 Mal wurden Mitarbeiter der Bahn allein im ersten Halbjahr 2016 angegriffen, gut 28 Prozent häufiger als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte hat sich laut Bundeskriminalamt im Jahr 2015 verfünffacht. Im Internet wird unverdrossen anonym gepöbelt, beschimpft und beleidigt. Auf Schulhöfen prügeln sich Zwölfjährige ins Koma, auf Fußballplätzen herrscht, besonders in den Amateurligen, das Faustrecht. In Schleswig-Holstein wurde ein Bürgermeister, der im Ort Flüchtlinge unterbringen wollte, von hinten mit einem Knüppel bewusstlos geschlagen. Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen. Verwahrlost unsere Gesellschaft, verroht sie sogar? Und wenn ja, warum?

Sozialer Abstieg

"Politisch motivierte Gewalt gab es früher schon", sagt Ulrich Wagner, Sozialpsychologe und Konfliktforscher an der Universität Marburg. "Neu ist, wer diese Gewalt ausübt: Menschen, die sich der sogenannten Mitte zugehörig fühlen, und nicht typische Demonstranten." Viele dieser Menschen haben einen sozialen Abstieg hinter sich oder fühlen sich davon bedroht. Dazu kommt, dass sie glauben, ohnehin knappe Ressourcen mit anderen Gruppen, etwa Flüchtlingen, teilen zu müssen - was das Bedrohungsgefühl steigert. Obwohl die Wirtschaft brummt und die Arbeitslosigkeit so niedrig ist wie lange nicht. Eine diffuse Angst, erklärt Wagner, sei damit in Schichten angekommen, die früher davon nicht betroffen waren: "Problematisch wird es, wenn diese Angst in Wut umschlägt - Angst führt zu Rückzug, aus Wut aber entwickeln sich Hass und möglicherweise auch Attacken."

Polizisten bekommen das beinahe täglich zu spüren. "Die Uniform besitzt keine Schutzwirkung mehr", klagt Arnold Plickert, NRW-Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Beamte werden zur Zielscheibe, angeschrien, angespuckt, angegriffen. Es gebe keinen Respekt mehr vor Institutionen, konstatiert er: "Das eigene Versagen wird dem Staat in die Schuhe geschoben." Zudem hat sich die Qualität der Gewalttaten verändert. Früher wurde vom Gegner abgelassen, wenn der am Boden lag, heute wird nachgetreten, alles mit dem Handy gefilmt und ins Internet gestellt. Kürzlich mahnte der Landesbischof der Nordkirche, Gerhard Ulrich: "Ich merke, dass die Schwelle, einander zu entwürdigen, in den vergangenen Jahren niedriger geworden ist, als es gut ist für unser Zusammenleben."

"Echoräume"

Entwürdigung spielt eine entscheidende Rolle bei der teils gestörten Kommunikation in den sozialen Medien. Dort regiert in Teilen eine Empörungskultur, die nicht auf Verständigung, sondern auf Verächtlichmachung abzielt. Von "Echoräumen" spricht die Sozialpsychologie - man will keine Argumente austauschen, sondern nur mit Leuten reden, die die eigene Meinung vertreten. "Es geht darum, dass man recht hat, nicht darum, ob man im Recht ist", sagt Wagner.

Neu ist aber auch das nicht. Jeder Stammtisch will aus- und abgrenzen, nur fehlt eben die Breitenwirkung. Das Internet funktioniert hier als Beschleuniger, aber es gaukelt auch eine Wirklichkeit vor, die nicht existiert. "Die Menschen überschätzen den Anteil der Personen, der hinter ihnen steht", sagt Wagner. Das Phänomen an dieser Mehrheitsillusion: Je extremer die eigene Position ist, desto größer wird der Anteil an Befürwortern eingeschätzt - ein fataler Irrtum. Insofern muss man wie Innenminister Thomas de Maizière (CDU) wohl eher von einer "Teil-Verrohung" unserer Gesellschaft sprechen. Und dieser Teil ist vielleicht viel kleiner, als man denkt. Zumal große Teile der Bevölkerung täglich ihre Empathie unter Beweis stellen - rund 23 Millionen Menschen helfen ehrenamtlich. Es geht also auch um ein Wahrnehmungsproblem, weil das Thema alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Ohnehin muss man mit dem Begriff Verrohung vorsichtig umgehen. "Nicht die verbale Entgleisung ist für mich die Verrohung, sondern die Tat", sagt die Düsseldorfer Psychologin Susanne Altweger. Vielleicht sollte man demnach eher von latenter Gereiztheit, von schlechten Umgangsformen sprechen. Die Gesamtzahl der Gewaltdelikte geht laut Plickert zurück, nur die Brutalität und Übergriffe auf Beamte haben eben zugenommen. Das Ziel sind also Eliten und deren Organe. Schwierig ist die Lage dadurch geworden, dass öffentlich ausgetragene Aggressionen durch politische Bewegungen wie die AfD und Pegida akzeptabel geworden seien, erklärt Ulrich Wagner: "Die gemeinschaftliche Legitimationserklärung stärkt diesen Menschen den Rücken." Zusätzlich bieten solche Vereinigungen denjenigen, die sich als Verlierer sehen, die Perspektive an, jemand zu sein.

"Menschen trauen sich wieder auf die Straße"

Wie aber dreht man diese Entwicklung um? Wie lassen sich Menschen erreichen, die nicht erreicht werden wollen, die Glauben an und Vertrauen in die Politik verloren haben? Einerseits mit schnellen Sanktionen von Straftaten, raten sowohl Polizist als auch Psychologe. "Wir müssen zeigen, dass es den Rechtsstaat gibt, notfalls auch Gesetze verändern, um Wiederholungstäter härter zu bestrafen", sagt Plickert. Durch massive Polizeipräsenz in Köln und Duisburg und Einschreiten bei niederschwelligen Delikten habe man in den vergangenen drei Monaten einen Rückgang von Straftaten um 20 bis 25 Prozent erreicht. "Die Menschen trauen sich dort wieder auf die Straße."

Andererseits müsse man unbedingt in Integration und Bildung investieren. Wenn junge Menschen den Weg ins Berufsleben finden, stützen sie auch das Wertesystem. Wagner sieht das ähnlich: "Wir müssen reden, reden, reden. Es bleibt nichts anderes."

(jis)
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