"Ehrenmord"-Fall Im Fall Sürücü sind noch viele Fragen offen

Berlin · Der gewaltsame Tod von Hatun Sürücü erschütterte viele Menschen: Im Februar 2005 wurde die junge Deutsch-Türkin in Berlin erschossen. Sie wollte nicht nach den Traditionen ihrer Familie leben. Sie ist kein Einzelfall in Deutschland.

 Zehn Jahre nach ihrem Tod ist der Fall von Hatun Sürücü immer noch offen.

Zehn Jahre nach ihrem Tod ist der Fall von Hatun Sürücü immer noch offen.

Foto: ddp, ddp

An einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof sackte die junge Frau zusammen - getroffen von drei Kopfschüssen. Ihr jüngster Bruder war der Todesschütze an diesem kalten Abend des 7. Februar 2005. Die Deutsch-Türkin musste sterben, weil die Familie ihren selbstbestimmten, westlichen Lebensstil nicht akzeptierte. Hatun Sürücü wurde nur 23 Jahre alt. Sie hinterließ einen kleinen Sohn. Ihr Schicksal löste bundesweit eine heftige Debatte über Integration und Parallelgesellschaften aus.

Zehn Jahre später ist das Thema "Ehrenmord" immer noch aktuell. Weltweit werden laut einer Studie des UN-Weltbevölkerungsberichts rund 5000 Mädchen und Frauen im Namen der "Ehre" ermordet. Da in vielen Ländern die Taten nicht vor Gericht gebracht werden, sei allerdings die Dunkelzimmer höher. Die meisten Taten würden in islamischen Ländern begangen. Ehrverbrechen gäbe es aber auch in Brasilien, Ecuador oder Italien — aber auch in Deutschland.

Sürücü ist kein Einzelfall

Im Vergleich zu den weltweit bekannten Zahlen sind in Deutschland wenige Fälle bekannt. Laut einer Studie des Bundeskriminalamtes von 2011 gibt es durchschnittlich zwölf "Ehrenmorde" jährlich in Deutschland (dem gegenüber stehen jährlich 700 Tötungsdelikte). Eine Steigerung konnte bei der Untersuchung über zehn Jahren nicht festgestellt werden. Die Fälle sorgen dennoch für großes Aufsehen.

Es gibt ganz unterschiedliche Gründe für ein Ehrverbrechen. Laut der BKA-Studie ist eine unerwünschte Liebesbeziehung meist der Auslöser für die Tat. Dazu gehören die Verweigerung einer Zwangsheirat, Trennung und Scheidung. Auch die vermeintlich falsche Partnerwahl oder Unabhängigkeitsstreben des Opfers — etwa durch einen westlichen Lebensstil — werden als Motive genannt.

Im Fall Sürücü fühlte sich ihre Familie durch ihr Verhalten "entehrt". Sie hatte sich nach einer Zwangsehe von ihrem ersten Mann getrennt, das Kopftuch abgelegt und ihren Sohn in Berlin allein aufgezogen. Sie feierte Partys und machte eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin.

Fall Sürücü immer noch offen

Der Mord an Sürücü aus vermeintlich verletzter Ehre ist bis heute noch nicht zu den Akten gelegt. Zwei Brüder sind weiter international zur Fahndung ausgeschrieben. Sie hatten sich in die Türkei abgesetzt. Dass mehrere Familienangehörige an der Tat beteiligt sind, ist laut Amnesty International üblich. In Gesellschaften, die individuelle Freiheit wenig, dafür die Familie im Vordergrund stehe, seien oft mehrere Verwandte involviert.

Sürücüs Mörder wurde im Juli 2014 nach knapp neuneinhalb Jahren Haft nach Istanbul abgeschoben. Er habe keine Reue gezeigt, und es sei nicht zu erwarten, dass er sich in die hiesige Gesellschaft integriere, hieß es im Ausweisungsbescheid.

Ihre zwei Brüder waren 2006 in einem ersten Prozess in Berlin aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Der Bundesgerichtshof hob die Freisprüche 2007 auf. Zu einem neuen Verfahren kam es nicht mehr, weil Mutlu und Alpaslan flohen.

Täter im Gefängnis radikalisiert

Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) habe aber den Fall nicht aufgegeben, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. Die türkische Seite hatte 2013 ein eigenes Strafverfahren gegen die beiden Männer eingeleitet, die Berliner Staatsanwaltschaft übersandte umfangreiche Akten. Wie weit die Ermittlungen sind, sei aber unklar. "Wir haben nichts gehört", so Heilmann. Die Türkei liefert ihre Staatsbürger nicht aus.

In der aktualisierten TV-Dokumentation "Verlorene Ehre - Der Irrweg der Familie Sürücü" (Rundfunk Berlin-Brandenburg) haben die Reporter Matthias Deiß und Jo Goll nun gezeigt, wie sich der Mörder in der Haft radikalisierte und nach seiner Abschiebung Deutschland verhöhnt. In Istanbul wohne er demnach bei einem seiner gesuchten Brüder. Ein weiterer Bruder bekenne sich im Internet zur Terrormiliz Islamischer Staat, heißt es im Film.

Verbände fordern mehr Aufklärung

Am 7. Februar werden am Gedenkstein für Sürücü in der Nähe des Tatortes wieder Blumen und Kränze niedergelegt. Auch Berlins Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) will am Samstag kommen. Im Rathaus von Berlin-Schöneberg wird tags zuvor unter dem Motto "Nein zu Gewalt im Namen der Ehre" diskutiert.

Doch vielen Verbänden ist dies zu wenig: Die Erinnerung an das Mordopfer sollte sich dauerhaft in Berlin widerspiegeln, fordert der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg. "Empörung einmal im Jahr am Gedenktag reicht nicht." Eine Schule oder andere Einrichtung könnte nach Hatun Sürücü benannt werden.

Sürücüs Schicksal stehe für viele Mädchen und Frauen, die Gewalt im Namen einer angeblichen Ehre erleiden, heißt es beim Verband. "Das ist ein sehr drängendes Problem", so Geschäftsführer Jörg Steinert. Es gebe bundesweit nach wie vor auch Zwangsverheiratungen. "Wir müssen die Familien erreichen, die Prävention muss verstärkt werden."

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