Analyse Kurden — die unbekannten Nachbarn

Düsseldorf · Durch die Auseinandersetzungen mit türkischen Gruppierungen in mehreren deutschen Städten, rücken die Kurden wieder zurück in den Fokus. Über eine der größten Minderheiten in Deutschland ist allerdings wenig bekannt. Wer sind sie?

 Bis zu 800.000 Kurden sollen in Deutschland leben.

Bis zu 800.000 Kurden sollen in Deutschland leben.

Foto: dpa, lus lof

Über 20.000 Demonstranten in Düsseldorf, spontane Versammlungen in vielen deutschen Großstädten und die zeitweise Besetzung des Dortmunder Hauptbahnhofes: Die Kurden hat der Krieg in Syrien auf Deutschlands Straßen und Plätze getrieben. Während die Versammlung überwiegend friedlich abliefen, kam es in Hamburg und Celle zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Kurden und radikalen Moslems. Der Bürgerkrieg in Syrien und im Irak findet seinen Widerhall offensichtlich auch hier. Experten warnen vor einer weiteren Eskalation. Während die salafistische Szene im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, ist über die Kurden wenig bekannt. Für viele Deutschen sind die hier lebenden Kurden wie ein leeres Blatt, auf dem höchstens mal die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und deren in der Türkei inhaftierte Anführer Abdullah Öcalan steht.

Ungefähr 800.000 Kurden leben in Deutschland nach einer Schätzung von NAVEND, dem Zentrum für Kurdische Studien e.V. in Bonn. Die Zahl wird laut der Bundesregierung als plausibel eingeschätzt, wie sie 2011 mitteilte, der Verfassungsschutz verwendet sie ebenfalls. "Genaue Statistiken haben wir nicht. In Deutschland wird nur nach der Nationalität gefragt, nicht nach ethnischer Zugehörigkeit", erklärt Metin Incesu, Vorsitzender von NAVEND. Für die Kurden, ein Volk ohne eigenen Staat, bedeutet das, dass sie dem Land zugerechnet werden, aus dem sie ursprünglich kommen. Sie werden offiziell als Türken, Iraker, Syrer und Iraner geführt — oder eben als Deutsche, weil viele eingebürgert worden sind. Nach Türken, Polen und Russen wären sie so die fünftgrößte Bevölkerungsgruppe in der Bundesrepublik. Sicher ist, dass es in Deutschland die größte kurdische Gemeinde außerhalb ihres Siedlungsgebietes gibt und dass Nordrhein-Westfalen das Bundesland mit den meisten Kurden ist.

Die meisten Kurden kamen als Gastarbeiter

Kein Wunder, denn laut Incesu sind der Mehrzahl der Kurden hier ehemalige Gastarbeiter aus der Türkei und deren Familien. Und diese zogen dorthin, wo es in den Sechziger und Siebziger Jahren Arbeit gab, vor allem in das Ruhrgebiet oder auch, wegen der Ford-Fabriken, nach Köln. Sie kamen aus dem bettelarmen Südosten Anatoliens und lebten zuvor als Kleinbauern oder Tagelöhner in einer sehr traditionellen, in Teilen archaischen Gesellschaft. Deshalb verfügten sie in der Regel über eine geringe Schulbildung. Die ihnen nachfolgenden Frauen waren oft Analphabeten.

In Deutschland wurden die Männer für körperlich harte und intellektuell anspruchslose Arbeit in der Industrie gebraucht. Von Bildung und sozialem Status unterschieden sich die Kurden kaum von den anderen türkischen Migranten. Zuhause sprachen sie kurdisch und pflegten ihre Bräuche, traten in der Öffentlichkeit jedoch nicht als eigenständige Gruppe auf. Die Deutschen hielten sie schlicht für Türken. Und in der Türkei wurden sie geringschätzig als "Bergtürken" verunglimpft, wie Gülay Kizilocak vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung erklärt.

Nach dem türkischen Militärputsch 1980 nahm die Repression gegenüber Kurden zu und führte zu kriegsähnliche Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Militär und der PKK, die ihren Höhepunkt in den 90er Jahren fand. Ein Bürgerkrieg herrschte auch bis zum zweiten Golfkrieg im Irak, wo Saddam Hussein hunderttausende Kurden vertrieb und tötete und dabei selbst vor dem Einsatz von Giftgas nicht zurückschreckte. Dazu kam die islamische Revolution im Iran, die die Eliten aus dem Land trieb.

Aus Irak, Iran und Türkei kamen Vertriebene

Viele Kurden kamen nun als Asylsuchende nach Deutschland, über Hunderttausend waren es insgesamt. Die Zusammensetzung der kurdischen Gemeinde änderte sich und auch ihr Selbstbild. Die Flüchtlinge gerade aus dem Irak und Iran waren besser ausgebildet, erklärt die Soziologin Naciye Celebi-Bektas. Und aus der Türkei kamen politisch verfolgte kurdische Intellektuelle. Die Neuankömmlinge gründeten kurdische Vereine, denen auch Arbeitsmigranten der ersten Generation beitraten. Durch die Repression und Verfolgung in ihrem Heimatländern, von denen ihre zurückgebliebenen Freunde und Verwandte betroffen waren, entwickelten die Kurden hier ein Gemeinschaftsgefühl.

Die Kurden heute leben in sehr unterschiedlichen Lebenswelten. Noch immer gibt es Familienclans, in denen archaische Traditionen wie die Blutrache lebendig sind. Unter den Tätern von sogenannten Ehrenmorden sind auch Kurden zu finden. Die meisten ältere Kurdinnen sprechen kaum Deutsch und können nicht lesen und schreiben. Viele Familien sind weiterhin sehr traditionell eingestellt und nehmen am öffentlichen Leben kaum teil.

Gleichzeitig haben viele Kurden der zweiten und dritten Generation den sozialen Aufstieg geschafft. Unter ihnen gibt es Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, Journalisten und Politiker. Laut einer Studie von NAVEND mit 350 kurdischstämmigen Jugendliche zeigen diese einen starken Integrationswunsch — die Rückkehr in ihre umkämpfte Heimat ist keine Alternative. Im Vergleich zu türkischen Studenten sind sie überproportional an deutschen Universitäten vertreten, erklärt Celebi-Bektas. Gerade junge Kurdinnen hätten demnach einen starken Aufstiegswunsch haben und Drang zur Emanzipation. Die Bildungskarrieren kurdischstämmiger Jugendlicher nähern sich laut der NAVEND-Studie an jene ihrer Altersgenossen ohen Migrationshintergrund an. Sehr viel stärker als türkische Jugendliche nehmen sie die deutsche Staatsbürgerschaft an — mit der Aufgabe ihrer ursprünglichen haben sie in der Regel keine Probleme.

Die Kurden in Deutschland gehören zu über 90 Prozent der muslimischen Glaubensrichtung an, die Ausnahme bilden kurdische Jesiden. Nur wenige sind allerdings in religiösen Organisationen vertreten. "Für das Selbstverständnis als Kurde ist die Religion nicht entscheidend. Wir definieren uns über unsere Geschichte und unsere Sprache", erklärt NAVEND-Chef Incesu. Und gerade die politisch aktiven Kurden, die auf die Straße gehen, seien eher säkular und westlich eingestellt, insbesondere die Jungen. Doch der Krieg in Syrien können gerade diese radikalisieren, warnen Experten. Vor allem wenn sie das Gefühl hätten, dass den kurdischen Kämpfern nicht geholfen werde. Die PKK profitiere von der hoch emotionalen Stimmung vieler Kurden und gewänne an Zulauf. In Düsseldorf war ihr Anführer Abdullah Öcalan auf riesigen Transparenten allgegenwärtig. Die Kurden bleiben sichtbar auf deutschen Straßen.

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