Neben der Spur (1) Lotte - wo Bürger die Mühle in Schwung halten

An der Grenze zu Niedersachsen liegt die unscheinbare Gemeinde, bekannt aus dem Verkehrsfunk. Gerade dort trifft man auf wahre Bürgerlichkeit.

In Lotte muss man nicht anhalten. Ein Kreisverkehr schleust Autofahrer, die das berüchtigte Kreuz von A1 und A30 umgehen wollen, unverzüglich an der Stadt vorbei Richtung Osnabrück. Darum verbinden selbst Pendler aus der Region Lotte nur mit dem Verkehrsrondell und dem Kunstwerk in dessen Mitte: eine Frauenfigur mit auffliegendem Röckchen, die sich um eine aufgespießte blaue Weltkugel mit Europa-Sternen dreht. Das Mädchen ist die "flotte Lotte" und soll für das Städtchen werben, genau wie der Slogan der Ortschaft: "Lotte - da lässt's sich leben". Diese Geschichte könnte also von Durchschnittlichkeit handeln, von einem dieser deutschen Provinzstädtchen, in denen sich Bäckerei, Apotheke und Optiker um den Marktplatz reihen und der Schuster "Absatzbar" heißt.

Doch was heißt schon Provinz, wenn man in Lotte Menschen wie Matthias Budke kennenlernen kann. Der ist Malermeister, hat den Betrieb vom Vater übernommen. Und er hat eine Leidenschaft: Fußball. Darum war Budke an diesem Morgen mal schnell im Stadion von Lotte, hat die Stufen vor der VIP-Tribüne sonnengelb gestrichen. Bald ist der große Tag: Am 8. August spielt Lotte im DFB-Pokal gegen Bayer Leverkusen. Der Viertligist, 1929 gegründet, gegen die Profis aus der ersten Liga. Da soll alles schön aussehen. Schließlich werden mehr als 7500 Menschen in das Stadion strömen. Das Fernsehen wird übertragen. "Das ist natürlich ein Fest, egal wie das Spiel ausgeht", sagt Matthias Budke. Obwohl - er persönlich braucht solche Ereignisse nicht. Er ist immer im Stadion. Auch wenn es schlecht läuft. Auch wenn der Trainer lieber defensiv spielen lässt und andere ihre Dauerkarten zurückgeben. Budke ist Fan. Darum schüppt er im Winter den Schnee von der Rasenfläche und streicht im Sommer die Stufen gelb und nennt sich selbst bekloppt, weil er so viel Energie für all das aufbringt. "Aber es muss ja Bekloppte geben, sonst gäbe es solche Orte nicht", sagt Budke. Und vielleicht muss man in Städtchen wie Lotte fahren, um solche Sätze zu verstehen.

Annette Salomo schaltet das Licht an. Jetzt leuchten die weißen Wände in der mittelalterlichen Kirche von Lotte. Das evangelische Gotteshaus mit dem windschiefen Kirchturm wurde vor 700 Jahren geweiht; darum feiert die Gemeinde Jubiläum, und die Kirche wurde renoviert. Salomo ist wegen der Hitze gekommen, um die Blumen zu gießen. Sie erzählt vom Kirchen- und Posaunenchor und "Futtern bei Luthern", einmal im Jahr wird nach Originalrezepten lutheranisch gekocht. Und weil grad Mittagszeit ist, lädt Annette Salomo ein ins Pfarrhaus, wo ihr Mann am Schreibtisch sitzt, im Besucherzimmer gemütliche Sessel vor deckenhohen Buchregalen stehen. Die Salomos sind seit 16 Jahren in Lotte. "Ich wollte damals Landpfarrer werden", sagt Detlef Salomo, "aber völlig abgeschieden wollten wir auch nicht leben." Lotte sei eine perfekte Mischung, idyllisch, überschaubar, aber Osnabrück mit der Uni, dem Theater, Kinos sei eben auch nicht weit. "Natürlich spüren auch wir, dass Kirche an Bedeutung verliert", sagt der Pastor, aber die Gemeinde sei sehr lebendig und die Kirche im Ort auch für Kultur mit gewissem Anspruch zuständig. Darum organisiert das Pastorenpaar Gastvorträge für den Männerkreis, Abende mit Reiseberichten in der Kirche, Treffen von Bürgern und Asylsuchenden aus Lotte im Gemeindezentrum. "Beim letzten Mal haben wir fröhlich miteinander gesungen", sagt Annette Salomo und zeigt noch schnell ihren riesigen Garten, in dem auch Gottesdienst gefeiert wird. Wenn das Wetter mitmacht. "Es ist gut, in Lotte zu leben", sagt Annette Salomo noch. Und das klingt richtig an diesem Nachmittag.

Eigentlich ist Lotte ein Konstrukt. 1975 bei der Gebietsreform in NRW entstanden, vereint es die Gemeinden Lotte und Wersen, die nur verbindet, dass jenseits ihrer Grenzen Niedersachsen beginnt. Also nennen sich die Lotteraner seit der Zwangsvereinigung Alt-Lotteraner und die Wersener gewöhnen sich nur langsam daran, dass ihre Heimat jetzt auch Lotte heißt. Immerhin wurde das Rathaus nach Wersen verlegt. Und die größte touristische Attraktion liegt auch auf Wersener Gebiet: die Mühle Bohle.

Werner Schwentker geht voran. Er will zeigen, wo die Transmissionsriemen ankommen, die vom hölzernen Mühlrad und dem Wasser der Düte angetrieben werden. Die Mühle Bohle wurde bereits im 17. Jahrhundert errichtet, diente zunächst als Bocke- und Walkemühle zum Zerkleinern von Flachs und Walzen von Leinen. 1831 wurde an selber Stelle eine Getreide- und Ölmühle errichtet und deren Innenleben im Laufe der Industrialisierung technisiert. Die Originalmaschinen jener Zeit laufen heute wieder, weil sich Werner Schwentker und einige Gefährten zusammentaten, 2012 den Mühlenverein gründeten und das riesige Mahlwerk wieder ans Laufen brachten. Schwentker ist Diplom-Ingenieur, hat bei der Telekom gearbeitet. "Ich habe im Berufsleben Projekte gemanagt", sagt er, "jetzt ist die Mühle unser Projekt."

An diesem Vormittag sind fünf Männer aus dem Verein zur Mühle gekommen. Die Ausstellung muss mal wieder gereinigt werden. Danach wird gegrillt. "Wir haben etliche Anträge geschrieben, 180.000 Euro Schulden aufgenommen, um das alles restaurieren zu können", erzählt Schwentker, "bei solchen Summen schluckt man natürlich." Doch inzwischen ist die Mühle ein beliebtes Ausflugsziel, es gibt Programme für Schulklassen, alles von Freiwilligen organisiert. Davon erzählt Schwentker, wenn man ihn fragt, warum er und seine Freunde sich das antun. "Die Leute freuen sich darüber", sagt er schlicht.

Bei Wolfgang Johanniemann hat alles mit seiner Liebe zur Fotografie begonnen. Mit seiner Kamera ist der gelernte Chemiker schon als junger Mann auf Streifzug gegangen, hat seine Nachbarschaft porträtiert. Aus Freude am Tun. Doch bald fiel ihm auf, wie schnell sich seine Umgebung verändert - wie wertvoll Momentaufnahmen des Alltäglichen sind. So ist er zum Heimathistoriker geworden. Denn bald hielt er die Veränderungen auch in Worten fest. Mehrere Bücher über Lotte hat er verfasst, auch für die örtliche Presse geschrieben und wenn in Lotte ein Stadtführer mit historischen Kenntnissen gebraucht wird, ist er zur Stelle. Ehrenamtlich. "Die Zeit vergeht so schnell", sagt Johanniemann, "ich versuche, sie ein wenig festzuhalten."

Und auf einmal gehört das alles zusammen: Der Malermeister auf dem Fußballplatz, die Pfarrersfrau beim Blumengießen, die Männer von der Mühle, der Historiker mit der Kamera: Menschen, die irgendwann gespürt haben, dass es gut ist, etwas für andere zu tun. Man trifft sie, wenn man am Kreisverkehr von Lotte abbiegt. Und anhält.

(RP)
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