Radrennen in Frankfurt Sport darf nicht vor Terror kapitulieren

Frankfurt am Main · Der vereitelte Anschlag auf das Radrennen in Frankfurt am 1. Mai macht deutlich, wie verletzlich solche Veranstaltungen sind. Doch sie sind wichtig für unsere Gesellschaft. Weil Sport Freiheit ist.

 Trotz der Warnungen sind einige Radfahrer beim Rennen "Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt" auf die Strecke gegangen.

Trotz der Warnungen sind einige Radfahrer beim Rennen "Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt" auf die Strecke gegangen.

Foto: dpa, ade cul

Die Gedanken fliegen von den gedeckten Tischen im Eschborner Mercure-Hotel an die amerikanische Ostküste. "Boston muss in Frankfurt nicht sein", sagt mit sonorer Stimme Rudolf Scharping, ehemals Bundesverteidigungsminister und seit zehn Jahren Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer (BDR). Das Landeskriminalamt Hessen hat gerade die 54. Auflage des einstigen Rennens "Rund um den Henninger-Turm", das nun den sperrigen Namen "Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt" trägt, offiziell gestoppt, bevor sie angefangen hat. Wegen der Gefahr eines Attentats.

Die von Scharping verwendete Chiffre "Boston" steht für den schlimmsten Terroranschlag auf eine Sportveranstaltung seit dem der Palästinenser-Organisation "Schwarzer September" bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Auf der Zielgeraden des ältesten kontinuierlich ausgetragenen Marathons der Welt waren vor gut zwei Jahren bei einer doppelten Sprengstoffexplosion drei Zuschauer, darunter ein achtjähriger Junge, ums Leben gekommen. 264 Personen wurden verletzt.

Im vergangenen Monat fand der Marathon in Boston zum zweiten Mal nach dem Attentat wieder statt. "Freiheit, Frieden und Stärke - wir werden alle durch diese drei Säulen unter einem strahlenden Frühlingshimmel vereint sein", schrieb die dreimalige Boston-Siegerin Uta Pippig auf ihrer Homepage mit viel Pathos, "die Schatten der Vergangenheit werden uns nicht mehr einholen. Wir haben uns versprochen, dass wir um unsere Freiheit immer wieder neu kämpfen werden. Wir laufen gemeinsam und stehen zusammen."

Sport ist Freiheit.

Es ist unmöglich, Massenveranstaltungen wie in Boston oder in Hessen komplett zu überwachen. Über 100 Kilometer hätte die Distanz in Frankfurt betragen, durch die Wälder des Taunus und durch die Wohngebiete der Rhein-Main-Region. Neben den Profis wollten rund 5000 "Jedermänner", wie sich ambitionierte Hobby-Rennradfahrer nennen, an den Start gehen. Marathonläufe wie der am vergangenen Wochenende in Düsseldorf, große Triathlonwettbewerbe, wie wiederum Frankfurt einen am 2. August erleben wird, oder Skilanglauf-Marathons wie der Wasalauf in Schweden sind potenzielle Ziele von Terroristen.

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Foto: dpa, lus

Doch der Sport darf nicht vor dem Terror kapitulieren. IOC-Präsident Avery Brundage setzte die Spiele 1972 mit der berühmten Aussage "The show must go on" fort. Doch in den Fällen Boston und Frankfurt geht es weniger um eine Show, die nach Fortsetzung verlangt, als vielmehr um ein Statement einer freiheitlichen Gesellschaft. Sportveranstaltungen für jedermann sind Ausdruck von Lebensfreude und Leistungsbereitschaft, von Internationalität und Chancengleichheit. Sie sind verbindende Gemeinschaftserlebnisse.

"Athleten aus aller Welt sehnen sich danach, den frischen Morgennebel dieses Frühlingstages auf der Haut zu spüren, den Klang von Tausenden von Füßen auf den sanften Hügeln der Strecke zu hören, den endlos langen Strom von Läufern zu sehen, die sich der Innenstadt nähern", schrieb Pippig. Es ist kein Zufall, dass derartige Sportveranstaltungen in totalitären Staaten entweder gar nicht stattfinden oder den besonderen Argwohn der Herrschenden hervorrufen.

So etwa der Rennsteiglauf in Thüringen, der seit den frühen 70er Jahren in jedem Mai als Europas größter Crosslauf stattfindet und der DDR-Führung als unkalkulierbares Treiben missfiel. Sie sah darin "keine sportpolitische, sportliche oder sportmedizinische Notwendigkeit". Der Anordnung widersetzten sich zum Glück Jenaer Studenten, die als "Partisanen" in die Sportgeschichte eingingen und mithin dafür sorgten, dass eines der schönsten Events des Landes bis heute die Menschen in der Natur des Thüringer Waldes zusammenbringt.

Der Sport darf sich nicht in Stadien und Hallen verschanzen, wie er es bei Olympischen Spielen spätestens seit den Anschlägen am 11. September 2001 tut - wie er es leider tun muss. Der Freizeitsport würde zugrunde gehen, wenn man ihn einsperren würde. Er würde seines im besten Falle unbeschwerten Wesens beraubt. Und die Gesellschaft würde ärmer.

Wer einmal bei einem großen Lauf oder bei Radrennen gestartet ist, weiß um die besondere Atmosphäre dieser Veranstaltungen. Er fühlt sich in einer Gemeinschaft, obwohl doch jeder ein anderes Ziel hat. Jeder ist einzeln unterwegs, aber ohne den Sog der anderen geht es nicht. Der Sport präsentiert sich bunt und individuell. Er überwindet Grenzen der Nationalität, des Alters, des Geschlechts, der körperlichen und der geistigen Leistungsfähigkeit. Er ignoriert Grenzen zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten. Er bringt - wie beim Radrennen in Frankfurt - Berufssportler und Amateure (wörtlich: Liebhaber) zusammen. Es gibt keine Buhrufe, sondern nur Anfeuerung.

Dennoch ist es falsch, dass sich Hunderte von Hobbyfahrern gestern trotz der Absage auf den Weg durch den Taunus gemacht haben. Auch wenn sie von den Veranstaltern geführt, von der Polizei gesichert und von vielen Anwohnern gefeiert wurden. Es war nicht der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort, um ein Zeichen gegen den Terror zu setzen. Sie haben damit das Signal ausgesandt, die Sicherheitsbehörden hätten überreagiert. Selbst der Rennleiter, der frühere Weltmeister Rudi Altig ("Ich liebe dieses Rennen durch den Taunus. Aber ich würde dafür nicht mein Leben geben"), und Veranstalter Bernd Moos-Achenbach ("Die Absage ist absolut richtig. Die Situation erforderte es, auch wegen möglicher Trittbrettfahrer") akzeptierten die Absage und kündigten die nächste Auflage für 2016 an - als ein Fest des friedlichen und freiheitlichen Sports.

(RP)
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