Interview mit Buchautor Stephan Harbort "Serienmörder suchen sich ihre Opfer genau aus"

Düsseldorf (RPO). Stephan Harbort ist Deutschlands bekanntester Experte für Serienmorde. Im Interview mit unserer Redaktion spricht der Düsseldorfer Kriminalhauptkommissar unter anderem darüber, wie man sich davon schützen kann, zum Opfer eines Serientäters zu werden.

 Der Düsseldorfer Kriminalist Stephan Harbort hat für sein Buch Mörderinnen interviewt.

Der Düsseldorfer Kriminalist Stephan Harbort hat für sein Buch Mörderinnen interviewt.

Foto: Droste Verlag

In den vergangenen zehn Jahren hat Harbort 53 Interviews mit verurteilten Serientätern geführt. Auch mit Opfern, die die Begegnung einem Serienmörder überlebt haben, hat er sich getroffen. Auf den Erkenntnissen aus diesen Gesprächen basiert sein aktuelles Buch "Begegnung mit dem Serienmörder. Jetzt sprechen die Opfer", das im Droste-Verlag erschienen ist.

 Das Buch "Begegnung mit dem Serienmörder" ist im Droste-Verlag erschienen.

Das Buch "Begegnung mit dem Serienmörder" ist im Droste-Verlag erschienen.

Foto: Droste-Verlag

Herr Harbort, das öffentliche Interesse an Serienmördern ist groß, aber wir wissen wenig über die Opfer. Warum ist das so?

Harbort Es ist ein menschlicher Reflex, dass wir uns zunächst für den Täter interessieren: Was für eine Art Mensch ist das? Wie muss man sich so jemanden vorstellen? Der Täter spielt in den Augen vieler Menschen die Hauptrolle, das Opfer bleibt Statist — diese klassische Rollenverteilung dominiert unsere Wahrnehmung.

Warum haben Sie das Buch geschrieben?

Harbort Ich möchte die Opfer und ihre Angehörigen aus der dunklen Ecke der Nichtbeachtung herausholen. Und deutlich machen, dass sie Bedürfnisse und auch Rechte haben. Man hilft den Opfern nicht, indem man einen Bogen um sie macht, sie quasi mit einer Kontaktsperre belegt. Ich habe mit dem Vater eines Opfers gesprochen, der als Taxifahrer gearbeitet hat. Als er seine Arbeit wieder aufnehmen wollte, stand er allein an seinem Taxi, 50 Meter weiter standen alle Kollegen versammelt. Niemand hat einen Schritt auf ihn zu gemacht.

Das Problem ist: Die Menschen wissen nicht, wie sie über die imaginäre Grenze hinwegkommen: Darf ich das? Will der das? Der Vater hat schließlich nicht nur seine einzige Tochter verloren, sondern musste auch seinen Beruf aufgeben, weil er das nicht mehr ausgehalten hat.

Kann man sich selbst davor schützen, zum Opfer eines Serienmörders zu werden?

Harbort Ja. Wir Menschen haben ein Grundproblem: Wir glauben, dass immer die anderen zum Opfer solcher Verbrechen werden. Und diese Illusion der eigenen Unverwundbarkeit suggeriert eine trügerische Sicherheit. Wir müssen uns klar machen, dass wir genau dort besonders gefährdet sind, wo wir es am wenigsten erwarten: in der eigenen Wohnung, am Arbeitsplatz oder auf dem Weg dorthin. Diese Alltagsroutinen sollten kritisch überdacht und Risiken minimiert werden. Beispiel: Muss ich wirklich durch den dunklen Park gehen, wenn ich im Winter abends um acht aus dem Büro komme?

Ganz wichtig ist beispielsweise auch, wie jemand auf andere Menschen wirkt. Täter schauen sich ihre Opfer genau an. Sie entwickeln mit der Zeit ein feines Gespür dafür, wer wehrhaft ist und wer nicht. Dafür gibt es viele Kriterien: Kleidung, Gang, Gestik und Mimik. Besonders bei Frauen ist immer wieder zu beobachten, dass Täter sich zurückhalten, weil das potenzielle Opfer selbstbewusst auftritt und ein hohes Maß an Sozialkompetenz vermittelt. Wenn man aber nicht der Typ ist, der in der Öffentlichkeit selbstsicher auftritt, kann man ein solches Verhalten durchaus trainieren.

Schieben Sie damit nicht den Opfern einen Teil der Schuld zu?

Harbort Von Schuld möchte ich nicht sprechen, das wäre der falsche Begriff; situationsgerechtes Verhalten trifft es besser. Es gibt viele Opfer, die ganz und gar unverschuldet in eine Gefahrensituation geraten sind. Aber es gibt auch Fälle, in denen die Opfer unvorsichtig waren, leichtgläubig, manchmal auch provokant. Opferverhalten darf und muss auch kritisch bewertet werden, sollen aus diesen Tragödien die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Jeder, der ein vermeidbares Risiko eingeht, sollte sich fragen: Muss trampen wirklich sein? Muss ich wirklich mit einem Fremden in seine Wohnung gehen? Gibt es nicht auch eine andere Lösung?

Wie sollte man reagieren, wenn man fürchtet, einem Serienmörder gegenüber zu stehen?

Harbort Statistisch gesehen nimmt jeder Serienmörder 31 Anläufe, bevor er eine Tat tatsächlich vollbringt. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die die Begegnung mit einem Serientäter überlebt haben. Und ich habe Täter gefragt, was sie letztlich davon abgehalten hat, ihr Opfer zu töten. Sehr oft ist der Grund ein den Täter überraschendes Verhalten. Das Opfer hat eine gute Chance, wenn es ihm gelingt, die Erwartungshaltung des Täters zu durchkreuzen.

Ein Mörder, der drei Frauen vergewaltigt und umgebracht hat, hat mir erklärt, warum er eine ganze Reihe von Frauen davonkommen ließ, obwohl er sie hätte töten können. Er sagte: "Ich wollte die Angst in ihren Augen sehen. Aber es gab Frauen, die hatten keine Angst und haben mich gefragt: Was ist dein Problem? Sollen wir mal darüber sprechen? Oder die haben mir angeboten, ich könnte sie küssen." Diese Frauen hat er nicht getötet. Seine Begründung war: "Wenn die sich so komisch verhalten haben und ich denen keine Angst einjagen konnte, kam ich mir so mies und so klein vor, da bin ich einfach abgehauen."

Es ist wichtig, zu erkennen: Wenn sich Opfer und Täter gegenüberstehen, gibt es zunächst eine bestimmte Rollenverteilung: Täter und Opfer. Das heißt nicht, dass sich das nicht ändern kann. Opfer haben grundsätzlich viele Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen.

Opfer haben außerdem immer dann eine bessere Überlebenschance, wenn sie für den Täter nicht zu einer Bedrohung werden. Wer beispielsweise mit der Polizei droht, wird in den Augen des Täters zu einer beachtlichen Gefahr, die beseitigt werden muss.

Ein Beispiel: Der Berliner Serienmörder Thomas Rung ermordete insgesamt sieben Opfer. Allerdings ließ er auch eine Frau laufen, nachdem er sie vergewaltigt hatte. Warum, fragte ich ihn. Er sagte ganz nüchtern: "Die hat mich nicht angeguckt, konnte mich nicht sehen. Sie war keine Gefahr."

Wie fühlt es sich an, einem Serienmörder gegenüber zu sitzen und mit ihm über seine Taten zu reden?

Harbort Das sind meistens eher nüchterne Gespräche, wenn auch über grausige Themen. Da muss emotionale Schwerstarbeit geleistet werden — auf beiden Seiten. Ich habe aber auch schon viele Täter weinen sehen. Nicht aus Reue, sondern weil sie mit ihrer Lebenssituation unzufrieden sind. Ich versuche, Täter und Taten wertfrei und nüchtern zu betrachten. Aber immer gelingt mir das natürlich nicht. Vor allem dann nicht, wenn ich Tätern gegenüber sitze, die Kinder im Alter meiner Kinder getötet haben.

Was haben die Täter davon, mit Ihnen zu sprechen?

Harbort Ich komme nicht als Richter, Gutachter oder Polizist. Viele Mörder haben bei mir zum ersten Mal die Gelegenheit, frei und unbefangen über ihre Taten zu reden — ohne verurteilt und gemaßregelt zu werden. Die Täter haben doch ein grundsätzliches Problem: Vor ihren Taten können sie nicht über ihre Probleme sprechen, weil sie sich nicht trauen. Hat man sie gefasst, müssen sie sich gegenüber Polizei und Justiz verstellen, um eine möglichst geringe Strafe zu bekommen. Später im Gefängnis oder in der Psychiatrie ist es ähnlich. Deshalb ist es für manchen Täter attraktiv, dieses Forum, das ich anbiete zu nutzen. Darüber hinaus biete ich den Tätern an, mit mir in Kontakt zu bleiben.

Haben Sie sich schon mal dabei ertappt, Sympathie für einen dieser Täter zu empfinden?

Harbort Nein, da ist kein Platz für Sympathie. Wer Todesnachrichten überbringen musste, wer an Tatorten scheußlichster Verbrechen gewesen ist, wer die Opfer auf dem Obduktionstisch gesehen hat, der empfindet alles — nur eben keine Sympathie.

Gibt es Täter, die ehrliche Reue zeigen?

Harbort Ich bin bisher nur einem einzigen Täter begegnet, dem ich abgenommen habe, dass er wirklich bereut. Er lebt heute in den USA. Bisher hat er sich gut gehalten. Ich wünsche ihm und seinen Mitmenschen, dass es auch so bleibt. Die allermeisten Täter aber können so ein Gefühl wie Reue gar nicht empfinden. Ein dreifacher Frauenmörder hat mir einmal gesagt: "Mir ist zwar klar, was ich getan habe, das war nicht in Ordnung. Aber ich habe kein Gefühl für die Opfer. Ich weiß, ich habe Schuld, aber ich empfinde sie nicht."

Kann man Serienmörder "kurieren"?

Harbort Das ist eine schwierige Frage. Es gibt Täter, und da sind sich alle Experten einig, die eindeutig nicht therapierbar sind. Das sind Menschen, für die das Morden viele Jahre lang zum Lebensinhalt geworden ist, die in einer pathologischen Vorstellungswelt leben. Entscheidend ist aber in jedem Fall, wie gravierend die Persönlichkeitsstörung ist und ob es ein passendes Therapieangebot gibt.

Die besten Chancen haben Täter, die nach ihrer Haft oder Therapie in ein intaktes soziales Umfeld gegeben und über einen längeren Zeitraum weiterhin amtlich betreut werden. Eins ist aber auch klar: Wer einmal die Schwelle überschritten hat, einen Menschen zu töten, der läuft sein Leben lang Gefahr, rückfällig zu werden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort