Analyse Wie unsere Jugend wirklich tickt

Düsseldorf · Handyfixiert, spielsüchtig, selbstverliebt - Teenager werden mit vielen Etiketten belegt. Doch wer Jugendliche wirklich verstehen will, muss Zeit mit ihnen verbringen, sagt die Journalistin Melanie Mühl. Und hat es versucht.

 Wer Jugendliche verstehen will, muss Zeit mit ihnen verbringen.

Wer Jugendliche verstehen will, muss Zeit mit ihnen verbringen.

Foto: dpa, car kno soe

Natürlich gehört es zum Wesen des Teenagers, den Erwachsenen ein Rätsel zu sein. Jugendliche sind ihren schwankenden Stimmungen schutzloser ausgeliefert als Vertreter anderer Altersetappen. In ihren Gehirnen ist gerade jener Bereich noch nicht voll ausgereift, in dem Funktionen wie Selbstdisziplin, Aufmerksamkeit und vorausschauendes Handeln verankert sind. Ihr Erlebnishunger ist maximal, dagegen lässt das Bedürfnis nach Bindung gerade nach. Und dann ist da noch der Drang, sich von dem abzugrenzen, was in der Familie an Werten, Glaubenssätzen, Stil gepflegt wird, weil Heranwachsende nur so ein erkennbares Ich entwickeln können. Das macht Teenager zu unberechenbaren Größen im Kosmos der Familie. Und zum Objekt der Wissenschaft, die dieser heterogenen Gruppe mit statistischen Methoden zu Leibe rückt. Denn Teenager, diese schwer zu durchschauenden Wesen, sind auch das: die Zukunft der Gesellschaft.

Ängste von Erwachsenen

Die sieht in den 15-Jährigen derzeit vor allem eine Generation, die ständig mit dem Handy und ihrem Äußeren beschäftigt ist, "Germany's Next Topmodel" (GNTM) schaut, am Computer zockt, von Magersucht bedroht ist und sich mit ihrem Hang zu Porno-Kanälen die Maßstäbe für gelungene Beziehungen verdirbt. Es schimmern in solchen Beschreibungen oft Ängste von Erwachsenen durch, die die nachrückende Generation vor Entwicklungen schützen wollen, die sie selbst als bedrohlich empfinden, die jedoch längst nicht mehr zu stoppen sind. "Jede Jugendgeneration versucht, mit der Welt, die sie vorfindet, zurechtzukommen", sagt Diplompädagoge Peter Martin Thomas, einer der Autoren der jüngsten Sinus-Jugendstudie, "manche ihrer Strategien sind klug, manche nicht, manchmal sind die Erwachsenen gefordert, Rahmenbedingungen zu verändern, etwa damit nicht immer mehr Jugendliche sozial abgehängt werden."

Aktuelle Erhebungen wie die Studie der Sozialforscher von Sinus zeigen, dass Teenager sensibel auf allgemeine Entwicklungen wie den wachsenden Konformitätsdruck in der Gesellschaft reagieren. "Mainstream" ist für sie kein Schimpfwort mehr, vielmehr erscheint ihnen "sein wie alle" als ein Ziel, das Sicherheit verspricht. Jugendkulturen wie früher einmal die Punkbewegung verlieren an Bedeutung. Das liegt zum einen daran, dass die Eltern der 15-Jährigen schon mit Popkultur aufgewachsen sind. Was nützt es schließlich, Punk zu werden, wenn schon der Papa früher grüne Haare hatte? "Außerdem ist die Mitte größer geworden, lässt also weitere Spielräume zu", sagt Thomas. Mainstream zu sein, bedeutet also nicht mehr zwangsläufig, sich langweilig und brav zu verhalten. Trotzdem ist der neue Konventionalismus wohl ein Reflex auf eine Welt des Terrors, der Wirtschaftskrisen und Umweltkatastrophen, in der Anpassungsbereitschaft Geborgenheit verspricht.

Einordnungsversuche mit Generation Selfie?

Doch jenseits aller Einordnungsversuche mit Etiketten wie Generation Selfie, Porno, Bausparvertrag - was bedeutet es konkret, heute an der Schwelle zum Erwachsensein zu stehen? Die Journalistin Melanie Mühl hat für ihr Buch "15 sein" lange Einzelgespräche mit Teenagern geführt, Zeit mit Cliquen verbracht und Schulklassen besucht, um das herauszufinden. Wer Jugendliche verstehen will, muss Zeit mit ihnen verbringen, schreibt sie. In ihren Gesprächen tritt zutage, dass viele Annahmen über Jugendliche stimmen: Sie verbringen viel Zeit mit dem Handy oder beim Zocken, schauen GNTM und sind heimlich fasziniert von der extremen Selbstbeherrschung der Magersüchtigen. Doch Teenager handeln nicht so unreflektiert, wie ihnen oft unterstellt wird. Sie sind nicht nur Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern auch deren Gestalter.

So reagieren sie auf die Zumutungen ihrer Zeit, fordern etwa in der Schule zu lernen, wie sie sich sicher im Internet bewegen können, und denken anders als Jugendliche noch vor wenigen Jahren über selbstverordnete Auszeiten vom digitalen Leben nach. Sie eifern den GNTM-Stars nach, machen sich aber auch lustig über die Inszenierung des Zickenkriegs bei Heidi Klum. Sie verlassen früher dominante soziale Netzwerke wie Facebook, weil dort längst ihre Eltern unterwegs sind, tauschen lieber auf Plattformen wie Insta-gram Bilder von sich aus. Die gestalten sie mit der Professionalität von Filmstars, die Gebote der Selbstinszenierung in der Medienwelt haben sie verinnerlicht. Zugleich ergeben die Schnappschüsse aus ihrem Alltag aber auch Tagebücher wie früher, die der Selbstvergewisserung dienen. Das Medium hat sich verändert, das Bedürfnis ist bekannt.

Allerdings entstehen mit den neuen Mitteln auch neue Risiken: Mobbing etwa, auch so ein altes Jugendphänomen, geschieht heute im Internet - und hat damit eine ganz neue Reichweite. Schmähkommentare verbreiten sich schnell und sind ewig abrufbar. Das ist demütigender als früher. Es sind also oft bekannte Phänomene, die im digitalen Zeitalter neue Form annehmen, der Elterngeneration dadurch womöglich fremder, unberechenbarer, gefährlicher erscheinen. Doch es war auch nicht alles immer schon so. 15 sein in einer Welt, in der das Leben digital durchdrungen ist, in der die sozialen Unterschiede wachsen, der Konkurrenzdruck steigt und mit größter Polarisierung über Zuwanderung gestritten wird, stellt vor neue Herausforderungen.

Jugendliche finden ihre Antworten, suchen nach ihren Methoden der Entschleunigung, chillen, suchen noch intensiver Halt bei Freunden, versuchen neben all der Virtualität, deren Möglichkeiten sie spielerisch, unvoreingenommen, oft auch naiv nutzen, ein wirkliches Leben zu führen mit belastbaren Beziehungen, der ersten Liebe, der Sehnsucht nach Beständigkeit. Wie alle, die mal 15 waren. Und ganz anders.

(dok)
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