Getötete Studentin Tugce Albayrak — eine moderne Märtyrerin

Düsseldorf · Der Tod der jungen Tugce Albayrak bewegt uns, weil sie sich so verhalten hat, wie wir es vielleicht nicht tun würden. So stellt sich die Frage: Was macht einen Menschen zum Helden, Vorbild oder Märtyrer?

Tucge: Beisetzung in Wächtersbach
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Abschied von Tugce - Beisetzung in Wächtersbach

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Das soll kein weiterer Text über Tugce Albayrak sein. Weil über sie, über ihren Mut und ihren Tod schon so viel gesagt worden ist, dass die junge Frau hinter all dem Gesagten und Kommentierten so gut wie verschwunden ist. Darum soll das ein Text darüber sein, was seit der Gewalttat auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants aus ihr gemacht wurde —ehrlicherweise: Was wir aus ihr gemacht haben.

All die Geschichten über die junge und schöne Frau sind eine Anteilnahme aus großer Distanz und werden dadurch eine Vereinnahmung. Tugce — wie jetzt alle nur sagen — steht für etwas. Sie ist vielleicht Sinnbild und verkörpert möglicherweise auch Wünsche. Den nach einem Vorbild beispielsweise — wie schon die sehr eiligen Vorschläge von Politikern zeigten, der Frau, die zum Opfer wurde, weil sie anderen Frauen beigestanden hatte, postum das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Andere wünschen, einen Platz oder eine Straße nach ihr zu benennen.

Das klingt ungewöhnlich, unkonventionell. Wie auch die Entscheidung im Kontrollausschuss des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), den Frankfurter Stürmer Haris Seferovic nicht zu bestrafen. Seferovic hatte nach seinem Treffer gegen Dortmund den Fans ein T-Shirt gezeigt mit einer Botschaft an Tugce. Laut Fifa-Regel Nummer 4 sind solche Botschaften allerdings verboten. Und selbst diese Nachsicht der DFB-Kontrolleure hören wir mit Wohlwollen.

Bewegender Abschied von Tugce
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Bewegender Abschied von Tugce

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Foto: dpa, brx htf

Die Funktion der Ikone

Der Übergang vom Vorbild zur Heldin ist fließend. Für den Offenbacher Psychologen Werner Gross löst das Schicksal der jungen Frau deshalb starke Emotionen aus, weil sie sich in heikler Lage so verhalten habe, wie es viele von uns eben nicht tun. Sie werde zur willkommenen Projektion unseres eigenen ungenügenden Verhaltens.

Vielleicht wäre die Geschichte von Tugce Albayrak damit auch schon zu Ende erzählt und auserzählt. Gäbe es nicht all die weiteren Versatzstücke eines Lebens und Sterbens, die nun herbeigeschafft und zu einem neuen Bild zusammengefügt werden. Tugce, die an ihren Schädel-Hirn-Verletzungen starb, hatte seit ihrem 20. Lebensjahr einen Organspendeausweis. So wurden ihr Herz, Leber und Lunge entnommen. Drei Menschen könnte sie damit das Leben gerettet haben, wird jetzt gemutmaßt und somit ihre gute Tat über den eigenen Tod hinaus verlängert.

Seferovic widmet sein Tor der verstorbenen Tugce
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Seferovic widmet sein Tor der verstorbenen Tugce

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Die auf vielen Ebenen aktive Öffentlichkeit macht Tugce zu einer Ikone der Zivilcourage. Ihrem Ursprung nach sind Ikonen Abbilder — von Heiligen oder von kultischen Handlungen. Ikonen schlagen deshalb Brücken zwischen einer unzureichenden Wirklichkeit und einer erhofften besseren Welt.

Das ist die Funktion der Ikone, ihre Kraft aber bezieht sie aus ihrem geheimnisvollen Umfeld. Sie steht für Unbegreifliches und Unerklärliches; sie ersetzt auch fehlende Information. Denn was in der Nacht auf dem Parkplatz geschah, lässt sich nur schwer rekonstruieren. Eine Überwachungskamera gibt nur unscharfe Bilder eines Handgemenges. Selbst die Art ihrer Hilfe für die bedrängten Frauen ist nicht genau geklärt. Wir wissen nicht alles, aber denken uns manches.

Ein anderes Beispiel aus dem Iran

Diese Anteilnahme, Trauer und Überhöhung spiegelt sich wider in einem anderen Fall vergleichbarer Tragik: Vor fünf Jahren wurde auf einer Demo gegen das Mullah-Regime in Teheran die 27-jährige Theologie-Studentin Neda Soltani erschossen. Durch Videobilder geriet ihr öffentliches Sterben zu einer ikonographischen Darstellung, der es an massenhafter verehrender Gefolgschaft nicht mangelte.

Mit Jeanne d'Arc wurde sie damals verglichen und ein "Engel des Iran" genannt. Die politische und nationale Dimension hat Tugces Tod nicht. Ein wenig heruntergedimmt aber wird er zum Sinnbild für die Haltung und die Werte eines mündigen Bürgers: für die Courage und Selbstlosigkeit sowie für ein Gerechtigkeitsempfinden, das ohne Rücksicht auf die eigene Person tätig wird.

Unsere Aufmerksamkeit wird zudem genährt durch eine Reihe vermeintlich überraschender Umstände: dass eine junge, unternehmungslustige Frau diese bürgerlichen Werte hochhält, dass sie mit dem Islam einer Religion angehört, die zu oft verdächtigt wird, westliche Werte gering zu schätzen, und dass sich all dies an einem Ort und zu einer Stunde ereignet, die für eine Austragung couragierten Handelns eher ungewöhnlich sind.

Aber überfordern wir mit dieser Botschaft nicht den frühen Tod? Wir leiten für uns daraus ab, dass ein Leben voller Werte ein im wahrsten Sinne des Wortes entschiedenes Leben ist. Doch so viel wir uns über das Opfer der Attacke in den vergangenen Tagen auch erzählt haben, bleiben die eigentlichen Beweggründe der Frau unbekannt. Und es geht nicht darum, auch dies quasi als letztes Geheimnis jetzt noch ergründen zu wollen. Vielmehr kann es Anlass sein, neben all der Trauer zu überlegen, ob der tragische Fall sich zu solcher Überhöhung und als Sinnbild eignet und ob er Vergleiche zulässt etwa mit Märtyrern oder gar Heiligen?

Ihre Courage als eine Lebenstugend

Die Lebensgeschichten von Heiligen und Märtyrern sind stets Konfrontationen, weil wir Menschen begegnen, die für ihre Werte bedingungslos gelebt und oft auch gelitten haben. Sie zeigen uns, das ein "Werte-volles" Leben seinen Preis hat, den sie zu zahlen bereit waren. Diese Menschen waren sich ihrer Zeit, aber auch ihrer Zeitlichkeit bewusst. Ihr wertebewusstes, reflektiertes Leben macht die Überlieferung so bedeutsam. Weniger ihr Tod.

Bei Tugce wurde erst der gewaltsame Tod zum Anlass, in ihrer Courage eine Lebenstugend zu sehen. Vielleicht verrät unsere fast schon kultische Trauer auch, dass wir in Tugce eine Art Stellvertreterin sehen. Sie stand für das ein, was wir zu oft im Alltag vermissen lassen. Ihre Tat kann dann auch zu einer Entlastung werden.

Am Mittwoch wurde Tugce beerdigt. Die Trauer und Anteilnahme wird uns begleiten — eine Zeit lang.

(RP)
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