Katastrophe in Nachterstedt Weitere Erdrutsche befürchtet

(RP). Experten haben in Nachterstedt neue Risse in der Böschung am Seeufer entdeckt. Sie erwarten in den nächsten Tagen weitere Abbrüche. Forscher sehen Risiken für derartige Erdrutsche zudem in weiteren Braunkohlegebieten.

Häuser rutschen in Erdkrater
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Fassungslos nahmen die rund 40 Anwohner der acht Häuser an der Abbruchkante des Erdrutsches von Nachterstedt die Nachricht entgegen: Experten haben gestern neue Risse im Boden und an weiter entfernt stehenden Häusern entdeckt. Sie gehen von weiteren Abbrüchen in den kommenden Tagen aus.

Häuser wahrscheinlich nicht mehr bewohnbar

Es ist unwahrscheinlich, dass die acht Häuser jemals wieder bewohnbar sind. Bis heute Abend will die Polizei das Gelände rund um den Concordia-See weitläufig einzäunen, da bei einem weiteren Abbruch eine Flutwelle in der Art eines Mini-Tsunamis entstehen könnte.

"Die Risse treten noch rund 30 Meter hinter der Bruchkante auf", sagte Gerhard Jost vom Landesamt für Geologie und Bergwesen Sachsen-Anhalt gestern. "Sie zeigen, dass der Kippbereich noch aktiv ist." Die mit einem Neigungswinkel von 70 Grad steil abfallende Böschung werde nach Einschätzung des Experten "in den nächsten Tagen" mit weiteren Abbrüchen flacher werden. Dabei werde die Bruchkante weiter in das Hinterland verlegt, so dass die dortigen Gebäude in Mitleidenschaft gezogen werden.

Risikokarte für Deutschland gefordert

Staatsanwaltschaft, Bergbau-Verwaltungsgesellschaft und ein vom Land Sachsen-Anhalt beauftragter Gutachter suchen derzeit nach der Ursache für den Erdrutsch. Der Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Uni Kiel, Wolf Dombrowsky, forderte gestern eine Risikokartierung für ganz Deutschland.

Unglücke wie in Nachterstedt könnten überall passieren. Die bisherigen Risikobewertungen in Bergbauregionen seien ungenügend, da "komplexe geologische Dynamiken etwa durch Wassereintritte, Temperaturschwankungen und unterschiedliche Lastveränderungen unberücksichtigt bleiben."

Bergbau-Experte Günter Meier von der TU Freiberg sagte, dass die Anwohner ehemaliger Bergbaugebiete mit der Befürchtung leben müssen, dass sich ein ähnliches Unglück anderswo wiederholen könnte: "Sicherheit in dem Sinne kann man nicht geben." Laut Dombrowsky müsse auch der Klimawandel berücksichtigt werden. "Da extreme Starkregenfälle zunehmen werden, muss man über verstärkte Formen des Oberflächenwasser-Abführens nachdenken."

Ähnliches fordern auch die vereinigten Initiativen "Bürger gegen Tagebau Garzweiler II" aus Wanlo, Erkelenz und Titz. "Klimaforscher bestätigen, dass es in Zukunft öfter Starkregen geben wird", sagt deren Vorsitzender Stefan Pütz. "Damit wird die Klimaveränderung für die Anwohner am Tagebau lebensbedrohlich." Erdrutsche könnten nicht nur auf aufgeschütteten Böden wie in Nachterstedt vorkommen, sondern auch an natürlich gewachsenen Hängen.

Das Land NRW will sich eingehend mit der Thematik befassen, sobald die Unglücksursache geklärt ist. Nach bisherigen Erkenntnissen seien die geologischen und hydrogeologischen Verhältnisse in Sachsen-Anhalt und NRW sehr unterschiedlich, sagte ein Sprecher des NRW-Wirtschaftsministeriums.

"Dringender Informationsbedarf für die Öffentlichkeit"

Der Unterausschuss "Bergbausicherheit" im Landtag will das Thema in der nächsten Sitzung behandeln. "Es besteht dringender Informationsbedarf der Öffentlichkeit", sagt Josef Hovenjürgen, Vorsitzender des Ausschusses. "Aber noch lassen sich keine Schlussfolgerungen für NRW ziehen."

In der Bergbauregion um Nachterstedt hat man sich bereits zum Handeln entschieden: Alle Bergbauhalden in Mitteldeutschland sollen auf ihren Zustand und auf mögliche Gefahrenpotenziale hin neu bewertet werden. Darauf einigten sich gestern die Wirtschaftsminister von Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Den Bewohnern der acht betroffenen Häuser versprach der Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt schnelle und unbürokratische Hilfe. Ihre Häuser werden sie allerdings nie wieder betreten dürfen. Der Katastrophenstab lehnte es gestern Abend ab, sie nur noch einmal in die Gebäude zu lassen, um letzte, persönliche Gegenstände zu holen.

(RP)
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