Ein Essay Wunschlos unglücklich

Düsseldorf · Das Wünschen ist eine komplizierte Angelegenheit. Wer Wünsche hat, der zeigt, dass er ein Wesen mit Transzendenz ist. Wünsche sind Lebensantrieb. Deshalb ist es mitunter besser, wenn sich Wünsche nicht erfüllen. Ein Essay.

 Glücksbringer, gute Vorsätze und Wünsche gehören zum Jahreswechsel für viele traditionell dazu.

Glücksbringer, gute Vorsätze und Wünsche gehören zum Jahreswechsel für viele traditionell dazu.

Foto: dpa, cas hpl

Zum Ende eines alten und zum Beginn eines neuen Jahres wird unheimlich viel gewünscht. Das ist eine gute Gelegenheit, einmal darüber nachzudenken, was das eigentlich ist, das Wünschen. Man denkt ja oft, der Wunsch sei bloß eine Ouvertüre, das Vorspiel sozusagen, und die Erfüllung sei dann das Eigentliche, die Vollendung nämlich. Aber so darf man das nicht sehen. Sonst ist man arm dran.

Gerade die Wünsche, die sich nicht erfüllen oder sich nicht sofort erfüllen lassen, sind ja viel wichtiger als die, deren Verwirklichung man ohne viel Aufwand erreicht. Sie sind Lebensantrieb. Es wäre kaum auszuhalten, wenn alle Wünsche in Erfüllung gingen. Man lebte dann im Schlaraffenland, und es gibt kaum einen langweiligeren Ort als das Schlaraffenland. Im Schlaraffenland hat jeder alles schon erlebt. Und wer etwas noch nicht gesehen hat, wird es nicht sehen wollen, weil es dort, wo er sich gerade befindet, ohnehin viel besser ist und ihm außerdem so dicke Trauben in den Mund wachsen — da wird man träge.

Die Formel vom erfüllten Leben

Im Schlaraffenland gibt es auch keine Kunst, weil Kunst erst entsteht, wenn jemand den Abgrund zu überbrücken versucht, der zwischen Wirklichkeit und Vorstellung klafft. Überbrücken kann diesen Abgrund nur, wer Wünsche hat oder mit der verzweifelten oder der verträumten Schwester des Wunsches vertraut ist, mit Sehnsucht oder Hoffnung. Deshalb gäbe es im Schlaraffenland auch keine Liebe, keine aufregende Liebe zumindest, keine, die einen voll erwischt und umhaut, denn das Begehren ist dort längst gestillt und abgetötet, und keiner kann mehr wollen, weil alles Wollen bereits Können ist.

Es gibt die Formel vom erfüllten Leben, und was damit gemeint ist, hat mit einem Leben in Erfüllung nichts zu tun. Sisyphos, das weiß man spätestens seit Albert Camus, hatte ein erfülltes Leben, obwohl und gerade weil sein größter Wunsch nicht erfüllt wurde. Was hätte er getan, nachdem er den Stein nach oben gebracht hätte? Was wäre wohl mit ihm geschehen, wenn der Stein liegen geblieben wäre? Wahrscheinlich das Schlimmste: Er wäre ein Mensch ohne Zukunft geworden.

Wünsche zu haben ist deshalb so wichtig, weil sich in den Wünschen zeigt, dass wir Lebewesen mit Transzendenz sind. Wer wünscht, malt sich aus, was kommen könnte. Er gestaltet. Im Grunde bringt er seinen Traum von einer besseren Welt zum Ausdruck. Wünsche sind ein Medium, über das man die Welt in Einklang bringt mit seinem Lebensideal. Wunsch bedeutet Unruhe, Unruhe bedeutet Lebendigsein, und wer glücklich sein will, wünscht sich besser keine Wunschlosigkeit.

Wer Wünsche hat, hat was zu erzählen

An den Wünschen eines Menschen kann man ablesen, was für ein Mensch der Wünschende eigentlich ist. Wünsche sind Ausdruck der Persönlichkeit, und außerdem helfen sie, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Auch das sind Wünsche: Ventile, die das psychische Überleben sichern, eine Welt in Aussicht stellen, die zu bewohnen sich lohnt und in der man die Rolle spielt, die man sich ersehnt.

Der Erfolg des eben gestorbenen Udo Jürgens beruhte zu großen Teilen auf seiner Fähigkeit, diese komplexe Gemengelage zu durchschauen. Udo Jürgens wusste, dass sich manche Wünsche eben nicht erfüllen, und deshalb sang er für jene, die sich nicht trauen, ihren Sehnsüchten zu folgen. Er versammelte die Daheimgebliebenen und stiftete Gemeinschaft, indem er ihnen "Ich war noch niemals in New York" vorsang.

In diesem Lied und in so vielen anderen Liedern von Udo Jürgens klingt aber auch die Ahnung an, dass es in New York womöglich gar nicht so toll ist. New York ist für die meisten nichts anderes als der Stein, der nicht mehr herunterrollt. Sisyphos wäre nicht glücklich geworden in New York. Das Begehren von etwas, das es wert ist, begehrt zu werden, aber in unerreichbarer Ferne liegt, kann mitunter ein Wert an sich sein. Erfüllung wäre dann nicht Vollendung, sondern bloß Desillusionierung, also etwas Trauriges. Die Schönheit der Fantasie ist nicht alltagskompatibel.

Wer Wünsche hat, der hat etwas zu erzählen. Träume sind die besten Geschichten, und die größten Romane und Filme handeln von Wünschen, nicht vom Glück der Erfüllung. Sie illustrieren ein erdachtes New York, ein Geistes-New-York. Über das Schlaraffenland gibt es keine Filme, die wären unerträglich und per se Satire.

"Beständige Zufriedenheit und keine Reue"

Johann Peter Hebel, dessen "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds" aus dem Jahr 1811 überhaupt eines der weisesten und lesenswertesten Bücher ist, hat in seine Geschichtensammlung auch einen Text über das Wünschen aufgenommen. In der burlesken Geschichte "Drei Wünsche" erscheint einem jungen Paar eine Fee. Sie hätten drei Wünsche frei, sagt die Fee, sie sollten sich doch bitte acht Tage Zeit nehmen und darüber nachdenken, was sie sich wünschen möchten.

Herrlich, mag man denken, eine Woche übers Wünschen nachdenken. Aber diese Woche ist die schlimmste im Leben des Paares. Grausam, Marterpfahl. Irgendwann essen sie zu Abend, und die Frau wünscht sich versehentlich Würstchen dazu und bekommt sie auch, und der Mann flucht und wünscht sich die Würstchen in seinem Zorn an die Nase der Frau. Den letzten Wunsch verwenden sie dann dafür, die Würstchen von der Nase wieder wegzuwünschen. Am Ende ist alles wie vorher. Das Paar hat es nicht bis nach New York geschafft.

Hebel gibt seinen Lesern einen Rat: "Alle Gelegenheit, glücklich zu werden, hilft nichts, wer den Verstand nicht hat, sie zu benutzen." Wenn also eine Bergfee komme, möge man sich am besten "beständige Zufriedenheit und keine Reue" wünschen. Das ist wohl tatsächlich der allerbeste Wunsch.

Der darf ruhig in Erfüllung gehen.

(hol)
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