Düsseldorf Eine Million Klicks für Mathe-Video

Düsseldorf · Schüler und Studierende nutzen Videotutorials im Internet als Lernhilfe. Online-Nachhilfelehrer wie Daniel Jung aus Remscheid generieren mitunter eine Million Klicks pro Video. Didaktiker sehen die kostenlose Revolution kritisch.

Der moderne Nachhil-felehrer steht nicht mehr vor einer Klasse, er steht vor einer Kamera. Wenn "MrWissen2go" alias Mirko Drotschmann erklärt, was die Wei-marer Republik ist oder "The Simple Club" alias Alexander Giesecke mit Nicolai Schork in Jugendsprache über die Proteinbiosynthese spre-chen, schauen sich das bis zu einer Million Schüler und Studierende an. Die Nachhilfelehrer sind aber keine studierten Lehrer. Auch Mathe-Erklärer Daniel Jung nicht. Der Remscheider braucht bloß eine Tafel und einen Stift, um seinen Schülern Nachhilfe in Mathe zu geben.

Mehr als 2100 Videos zum Thema Mathematik hat Daniel Jung (36) auf seinem Youtube-Kanal bereits hochgeladen. Seine Schüler mögen ihn wegen der kurzen, leicht konsumierbaren Lehrvideos, die er ins Netz stellt. Der ehemalige Lehramtsstudent aus Wuppertal bezeichnet sich selbst als "Bildungs-Revolutionär". Mit dem Slogan "Let's rock Mathe" lädt er jeden dazu ein, seine Tutorien anzuschauen. Seine Zuschauer besuchen keine Schule, sie gehen täglich in die virtuelle "Daniel Jung Academy" -wohl eine der größten virtuellen Lehreinrichtungen Deutschlands mit derzeit etwa 275.000 Abonnenten. Die Nachhilfestunde dauert keine 45 Minuten, sondern höchstens fünf. Die Zuschauer danken es mit lobenden Kommentaren: "Ich liebe dich, Mr. Mathe. Danke, dass du dir Zeit für uns nimmst" oder "Was ich in sechs Mathestunden nicht gecheckt habe, macht nach sechs Minuten mit dir Sinn". Daniel Jung ist einer von vielen, die vor Jahren eine Nische gefüllt haben.

Etwa 900 Millionen Euro geben Eltern in Deutschland jedes Jahr für Nachhilfe aus. Das hat eine Befragung der Bertelsmann Stiftung 2016 ergeben. Rund 1,2 Millionen Schüler im Alter zwischen sechs und 16 Jahren bekommen Nachhilfeunterricht.

Der deutsche Markt aber ist intransparent: Es gibt Hunderte Anbieter. Gesetzliche Gütesiegel aber gibt es nicht. Eine Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung ergab, dass etwa 40 Prozent der Nachhilfe-Institute auch nicht-studierte Lehrer beschäftigen. Die "Schülerhilfe" etwa hat den Trend der Video-Nachhilfe erkannt. Auf der Webseite gibt es ein Lerncenter mit multimedialen Angeboten - die allerdings alle hinter einer Bezahlschranke liegen. Das Ideal, dass Bildungschancen nicht von privat finanzierter Nachhilfe abhängen dürfen, erfüllen so nicht die Institute, sondern die kostenlosen Angebote auf Youtube.

Inge Schwank, Professorin für Mathematik und Didaktik an der Universität zu Köln, hat eine zwiegespaltene Meinung zu den "Web-Lehrern". Vom Video zur Kurvendiskussion von Daniel Jung ist sie nicht angetan. "Die Schüler bekommen Rezepte an die Hand. Das reicht nicht aus", sagt Schwank. Lernen bedeute nicht nur Reproduktion, sondern "den Sinn einer Aufgabenstellung zu verstehen". Schwank vergleicht das Prinzip mit dem eines Taschenrechners, der Aufgaben ausrechnen kann, "aber die Schüler können nicht mit ihm darüber diskutieren, was etwa der Hochpunkt einer Kurve aussagt". Das vernetzte Wissen bleibe auf der Strecke. "Der Mensch hat nicht genügend Platz im Gedächtnis, um Lösungswege lediglich auswendig zu lernen."

Dennoch sehen Didaktiker auch Vorteile der Video-Angebote: Statische Grafen können dynamisch dargestellt und Entwicklungsprozesse aufgezeigt werden. Schüler und Studierende könnten einen neuen Fokus auf Inhalte bekommen. Das Lernen wird visueller.

Doch das ist nicht der einzige Grund, warum Nachhilfe per Videotutorial boomt. Rund 44 Millionen Deutsche schauen regelmäßig Internetvideos. Video-Anleitungen verdrängen Hand- und Lehrbücher, wie die Bitkom-Studie "Zukunft der Consumer Electronics - 2015" zeigt. Die beliebtesten Tutorials sind Haushaltstipps und Fragen zu Computer und Technik, dann folgen Videos zum Thema Lernen und Bildung. Besonders gefragt ist Nachhilfe in Mathematik, gefolgt von Fremdsprachen und Deutsch.

Auf lange Sicht könnte Daniel Jung so vielleicht auch die Zielgruppe überzeugen, die das Geld für zusätzliche Bildung bisher lieber in konventionelle Nachhilfe investiert: die Eltern. Bisher nämlich zahlt Youtube dafür, dass Jung ihren Kindern Nachhilfe gibt. Bevor die digitale Unterrichtseinheit mit dem Remscheider Mathe-Erklärer beginnt, ist ein Werbespot zu sehen.

Neuerdings geht Jung, der vor fünf Jahren seinen Kanal eröffnet hat, sogar auf Tour: Job und Karriere sind Themen, über die er unter anderem in Köln und Aachen mit Schülern und Studierenden diskutiert. Der 36-Jährige hat sich zur Marke gemacht. Doch er beruhigt seine Abonnenten - natürlich per Video. Er will weiter Mathe erklären. Und zwar kostenlos.

(ball)
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