Wien Die Lehren aus dem Null-Punkte-Debakel

Wien · Für die Deutschen endete der 60. Eurovision Song Contest enttäuschend. Die ARD will den Vorentscheid überdenken.

ESC 2015: Das war der Auftritt von Ann Sophie
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Das war der Auftritt von Ann Sophie

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Foto: dpa, jst sab

Zum ersten Mal seit 50 Jahren hat Deutschland im Finale null Punkte bekommen, die deutsche Teilnehmerin Ann Sophie ging komplett leer aus. Das widerfuhr bislang nur Nora Nova (1964) und Ulla Wiesner (1965). Die Antworten auf die drängendsten Fragen.

Ist das Punktesystem gerecht? Seit 2009 zählen die Stimmen einer fachkundigen Jury und des Publikums zu jeweils 50 Prozent. Der Kulturwissenschaftler und ESC-Experte Irving Wolther sieht diese Entwicklung kritisch. Zwar wollte man mit diesem System verhindern, dass sich einzelne Länder die Punkte zuschustern, jedoch spreche man damit den Zuschauern den eigenen Geschmack ab. "Das ist keine demokratische Entscheidung mehr." Die Jury bilde nicht den Querschnitt einer Gesellschaft, das müsste sie aber tun, um zu einem repräsentativeren Ergebnis zu kommen. Ein wirklich gerechtes Wertungssystem gebe es wohl nicht - gerade weil Musik Geschmackssache sei. "Aber die gängige Praxis halte ich für bedenklich. Wir müssen wieder zurück zu dem alten System kommen."

Haben die Fach-Jurys und die Fans denselben Musikgeschmack? Offenbar nicht. Die Zuschauer hätten nicht den Gewinner des Abends, den Schweden Måns Zelmerlöw, zum Sieger gekürt: "Italien hätte bei ihnen haushoch gewonnen, vor Russland und Schweden", sagt "Dr. Eurovision" Irving Wolther. Auch bei Ann Sophie gab es Unterschiede. Laut Jurywertung hätte sie den 16., laut Telefonwertung den 18. Platz belegt. Echte Punkte hätte sie, wenn nur das Telefonvoting zählen würde, aus Albanien und Polen (zusammen fünf Punkte) bekommen. Das Gastgeberland Österreich, das wie Ann Sophie auch null Punkte erhielt, hätte selbst nach der Unterscheidung in Jury- und Publikumsvoting keine Punkte erhalten, erklärt Wolther. Deshalb landete Deutschland auch auf dem 26. Platz und Österreich auf dem 27. - es gibt nur noch einen Letzten. Wenn mehr als ein Land keinen Punkt hat, entscheidet die Zahl der Anrufer. Alles in allem am schlechtesten wurde Deutschland von Zypern (26. Platz), den Niederlanden, Malta, Italien (jeweils 25. Platz) sowie Griechenland (23. Platz) bewertet. Belgien, Dänemark, Ungarn und Polen sahen Ann Sophie auf Platz 11.

Wird die ARD ihr Konzept beim Vorentscheid verändern? ARD-Unterhaltungschef Thomas Schreiber hat darauf bisher nur eine vage Antwort: "Null Punkte sind schon sehr enttäuschend. Wir werden jetzt genau überlegen, wie wir uns auf den ESC 2016 vorbereiten", sagte er. Ist Stefan Raab der bessere ESC-Macher? Fest steht: Wenn Raab beteiligt war, belegte Deutschland einen besseren Platz. Auf sein Konto geht Lenas Sieg 2010. Jedoch war seine Firma Brainpool auch dieses Mal am Vorentscheid beteiligt, wenngleich Raab selbst nicht der führende Kopf war. Wolther warnt davor, "sein Heil in einer Person suchen". Jedoch sei es notwendig, ein durchgängiges System für den Vorentscheid zu entwickeln. Dabei könnte das von Raab erdachte "Lena-Verfahren" ein Erfolg versprechendes sein: "Das heißt, man macht eine Castingshow für den Künstler, und dann guckt man, welcher Song zu ihm passt."

Deutschland wird immer als "Geberland" bezeichnet - lohnt die Teilnahme noch bei diesem Ergebnis? Die ARD musste in diesem Jahr 384 511 Euro bezahlen. Als eines von fünf Geberländern - den "Big Five" - ist Deutschland neben Frankreich, Großbritannien, Spanien und seit 2011 Italien im Finale gesetzt. Der Anteil, den die ARD an den Produktionskosten der European Broadcasting Union (EBU) trägt, ist laut NDR-Sprecherin Iris Bents sehr überschaubar: "Der deutsche Anteil liegt signifikant unter den Produktionskosten einer durchschnittlichen deutschen Unterhaltungsshow am Abend." Damit erwirbt die ARD auch die Übertragungsrechte für die Halbfinal-Shows. Zum Vergleich: Eine "Tatort"-Folge kostet rund 1,4 Millionen Euro. Der Anteil pro Land wird von der EBU nach dem Bevölkerungsanteil errechnet. So zahlte etwa das kleine Irland laut Medienberichten in den vergangenen Jahren zwischen 55 000 und 70 000 Euro. Die Summe, die der Gastgeber - das war 2015 der ORF - beisteuert, variiert von Jahr zu Jahr. Hinzu kommen für Deutschland die Kosten für den Vorentscheid, die weit über der eigentlichen Teilnahme-Gebühr liegen dürften.

Hat Ann Sophie versagt? So paradox es klingt: nein. Alle Songs werden im Wettbewerb in eine Reihenfolge gebracht. Punkte gibt es aber nur für die ersten zehn Plätze. So kann es sein, dass ein Künstler am Ende null Punkte hat, obwohl er, wie Ann Sophie, in der Summe mehrfach den elften, zwölften oder 13. Platz belegt hat. "Das ist wie ein vierter Platz bei Olympischen Spielen. Man geht knapp leer aus", sagt Wolther. Der deutsche Song sei nicht schlecht gewesen, aber zu unauffällig. Der schwedische Sieger zum Beispiel interagierte in einer perfekten Lichtshow mit einem Strichmännchen.

Und wie reagierte die Sängerin auf die Nullnummer? Die Hamburgerin Ann Sophie bewies nach dem ersten Schreck Humor und veröffentlichte ein Video, in dem sie den Siegersong "Heroes" nachsingt. Entscheidende Textänderung: "We are the Zeroes of our Time" - wir sind die Nullen unserer Zeit.

(RP)
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