Köln Ex-Förderschüler klagt auf Schmerzensgeld

Köln · Nenad Mihailovic war elf Jahre lang auf einer Förderschule, weil er als geistig behindert galt. Das ist der 20-Jährige aber nicht. Nun will er sich vor dem Kölner Landgericht rehabilitieren. Es ist die erste Klage dieser Art in Deutschland.

Als Nenad Mihailovic seine erste Klassenarbeit schrieb, war er 17 Jahre alt. "Mein Herz hat geklopft", sagt er. Der Mathelehrer des Berufskollegs in Köln-Deutz gab ihm eine "Eins minus". Und Nenad wäre am liebsten mit der Klausur zu seinen ehemaligen Lehrern gelaufen, hätte sie ihnen auf den Tisch geknallt und gesagt: "Ich kann's."

Elf Jahre lang war der heute 20-Jährige auf Förderschulen, weil Pädagogen ihn nach Angaben seiner Anwältin als geistig behindert eingestuft hatten - zu Unrecht, wie Nenad nun beweisen will. Er verklagt das Land NRW wegen Amtspflichtverletzung auf Schadenersatz und Schmerzensgeld in Höhe von 52.000 Euro. Heute startet der Prozess vor dem Kölner Landgericht.

Wenige Tage vor dem Prozess sitzt Nenad im Wohnzimmer seiner Mutter im Stadtteil Höhenhaus. Er denkt immer kurz nach, bevor er spricht. Nenad gestikuliert viel mit den Händen, um dem, was er sagt, Nachdruck zu verleihen. "Ich mache das nicht wegen des Geldes", sagt er. "Ich mache das, weil die Schulen meine Vergangenheit und meine Zukunft sehr beeinträchtigt haben - welcher Chef will schon einen ehemaligen Sonderschüler?"

Nenad und seine Familie sind Roma. Seine Eltern stammen aus Serbien, sie flüchteten in den 90er Jahren vor dem Krieg. Nenad wurde in Köln geboren, er hat fünf Geschwister. Seine Mutter spricht nur Romanes, der Vater starb vor einigen Jahren. Nenads Schicksal nahm seinen Lauf, als er nach einem Test an einer Grundschule am damaligen Wohnort in Bayern als geistig behindert eingestuft wurde. Der Junge verstand damals kaum Deutsch. Er wusste nicht, was der Mann, der da vor ihm herumfuchtelte, von ihm wollte. "Einen Dolmetscher gab es bei dem Test nicht, mir wurde ein Intelligenzquotient von 59 bescheinigt", sagt Nenad. Er wurde auf eine Förderschule geschickt. Unter den geistig und körperlich benachteiligten Kindern wurde der Junge immer stiller. "Ich habe nie mitgemacht, weil ich überhaupt nicht wusste, was die Lehrer von mir wollten." Deutsch lernte er zu Hause vor dem Fernseher.

Als die Familie 2009 nach Köln zurückging, kam Nenad gleich auf die nächste Förderschule für geistige Entwicklung, in Köln-Poll. Fünf Jahre blieb er dort. Ob tatsächlich noch Förderbedarf bestand, wurde nie wieder überprüft, wie Nenad sagt. Eigentlich muss eine Schule das jährlich testen. Er wurde auch in dieser Schule zum Einzelgänger, stellte seinen Tisch extra in eine Ecke, weg von den anderen, zu denen er nicht gehören wollte. "Ich wollte Mitschüler haben, die wie ich waren", sagt er. Einmal saß er auf dem Schulhof und weinte. "Ein jüngerer Schüler kam und klopfte mir auf die Schulter, von den Lehrern kam nichts, nie." Ein Einziger habe ihn ernst genommen, als er ihm gesagt habe: "Ich passe hier nicht rein, ich will auf eine richtige Schule." Der Pädagoge habe ihm dann im Unterricht oft andere Aufgaben gegeben, um ihn ein bisschen zu fördern. Gelernt habe er ansonsten aber nichts in dieser Zeit. "Ich bin irgendwann dann kaum noch zur Schule gegangen, aus Protest." Nenad las zu Hause Bücher. Das Schwänzen wurde ihm als Desinteresse ausgelegt. "Es hieß dann: ,Du kriegst hier nichts auf die Reihe, dann bringt eine andere Schule erst recht nichts.'"

Der Kölner Aktivist Kurt Holl war es, der Nenad schließlich half. Nenad kannte ihn und hatte sich ihm anvertraut. Der inzwischen verstorbene Menschenrechtler, der sich über Jahrzehnte für Roma in Köln eingesetzt hatte, meldete Nenad einfach auf einem Berufskolleg an, wo er innerhalb eines Jahres im Juni 2015 einen Hauptschulabschluss machte - als Klassenbester und mit einem Notendurchschnitt von 1,6. Als Nenad sich in dieser Zeit für einen Praktikumsplatz als Lagerist bewarb, antwortete er dem Chef auf die Frage, was er denn an Qualitäten mitbringe: "Mein Gehirn. Mir müssen Sie nichts dreimal erklären."

Inzwischen macht Nenad seinen Realschulabschluss. Im Sommer sind die Abschlussprüfungen. "Theoretisch wäre ich jetzt schon mit der Ausbildung fertig", sagt er. Eine Psychologin hat seinen IQ für den Prozess erneut getestet: Er liegt bei 94, Nenad liegt damit im guten Bevölkerungsdurchschnitt. "Den meisten meiner Klassenkameraden merkt man an, dass sie in der Schule sind, weil ihre Eltern sie geschickt haben." Er selbst sei dort, um endlich etwas zu lernen.

Das Schulministerium räumt Fehler ein, das kognitive Potenzial des Schülers sei vermutlich nicht richtig erkannt worden. "Für seinen weiteren Lebensweg wünscht man ihm in dem Schreiben viel Erfolg", sagt Nenads Anwältin Anneliese Quack. "Die haben einem Kind die Kindheit und Jugend versaut, und keiner entschuldigt sich." Die Kölner Förderschule behauptet in einem Schreiben an die Juristin, dass sie ihn regelmäßig getestet habe. "Sie behaupten, er habe eine instabile Persönlichkeit - deshalb habe ein Wechsel nicht zur Debatte gestanden."

Wenn Nenad heute an die Zeit auf den beiden Förderschulen denkt, sagt er: "Das ist, als hätte ich unschuldig im Gefängnis gesessen."

(RP)
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