"Internet.org" Facebook will das Internet übernehmen

Cambridge · Unsere Freunde, Feinde und Fotos kennt Netzwerk-Gründer Mark Zuckerberg längst, doch er will mehr: Facebook soll zum Synonym fürs Internet werden. Für Millionen ist es das bereits.

Meilensteine in der Facebook-Geschichte
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Foto: dpa, Jessica Binsch

Hätte doch nur die Harvard University vor elf Jahren die Teilnehmerlisten der Seminare nicht bloß auf Papier verteilt, sondern auch ins Internet gestellt. Dann wäre der Psychologie- und Informatikstudent Mark Zuckerberg nicht genervt genug gewesen, um seine Version dieser Kurzsteckbriefsammlung zu programmieren. Stattdessen ging am 4. Februar 2004 thefacebook.com online. Schon 24 Stunden später waren angeblich rund 1500 seiner Studienfreunde am Haken. Heute nutzen knapp 1,5 Milliarden Menschen Facebook mindestens einmal pro Monat, die meisten sehr viel häufiger.

Auf jedes jemals produzierte iPhone (von denen viele längst schrottreif sind) kommen zwei aktive Facebook-Nutzer. Das Portal ist populärer als YouTube, Amazon, Twitter, deren chinesische Konkurrenten und die Wikipedia. Einzig Google wird öfter aufgerufen. Das einstige Poesiealbum mit dem "f" im Logo ist längst nur noch Kern einer diversifizierten Konzernfamilie. Verglichen mit Apple, Nestlé oder Gazprom macht sie noch keine großen Umsätze, doch ihr Wert hat sich im vergangenen Jahr auf rund 70 Milliarden Dollar verdoppelt – und ihre Macht wächst mit der Masse ihrer Daten.

Facebook ist längst "too big to fail"

Dabei gehen ständig neue Soziale Netzwerke online, viele davon mit spannenden Ideen: Nach dem Scheitern des werbefreien "Ello" garantiert "Tsu" seinen Usern, 90 Prozent der mit ihren Inhalten generierten Werbeeinnahmen wieder an sie auszuschütten. "This" beschränkt seine Nutzer darauf, einen einzigen Link pro Tag zu teilen. "Koko" soll Depressiven beim Kampf gegen ihre Krankheit helfen.

Die Jüngsten verlassen Facebook schon wieder. Alle anderen bleiben da, weil ihre Freunde auch da bleiben. Für die tägliche, stündliche, minütliche Dosis Aufmerksamkeit, Unterhaltung, Ablenkung, Selbstdarstellung, Selbstvergewisserung per "Gefällt mir"-Klicks. "Du bist schön", "Du hast Humor" – als Überbringer dieser Botschaften ist Facebook unschlagbar. Wie ritualisiert dieser Austausch ist und dass die Bilder vom angeblichen Bilderbuchleben der anderen tiefe Unzufriedenheit wecken, wird routiniert verdrängt.

Der Angriff von "Google+" ist endgültig abgewehrt, Facebook alternativlos geworden, "too big to fail", vergleichbar noch am ehesten mit einem souveränen Staat voller zufriedener Bürger, wirtschaftlich potent, politisch stabil und militärisch unverwundbar.

Quasi-Monopol auf unsere digitale Privatkommunkation

Seit Neuestem integriert Facebook nicht nur Links zu "New York Times", "BBC" oder "Bild", sondern deren Inhalte selbst in sein Angebot - mit ausdrücklicher Genehmigung. Gegenüber den einst mächtigen Institutionen tritt Facebook bei diesen "Instant Articles" als Seniorpartner auf, es ertauscht sich einen wertvollen Imagegewinn gegen ein paar Glasperlen in Form von Werbeeinnahmen und Nutzerdaten.

Und eine Investition von 20 Milliarden Dollar hat Facebook in die Lage versetzt, ein Quasi-Monopol auf unsere digitale Privatkommunikation zu errichten: Wer nicht ohnehin per Facebook-Messenger kommunizierte, schrieb in den vergangenen Jahren SMS oder E-Mails. Heute nutzen 800 Millionen Menschen stattdessen die Facebook-Tochter Whats-App. Weitere 300 Millionen tauschen sich per Online-Fotoalbum Instagram aus, das längst ebenfalls dem jungenhaften Patriarchen Mark Zuckerberg (31) gehört. Und das konzerneigene Werbenetzwerk "Atlas" verfolgt ungezählte Menschen über alle Websites und Endgeräte hinweg - selbst wenn sie Facebook, Whats-App und Instagram boykottieren.

Die vielleicht erschreckendste Zahl ist relativ klein: neun Millionen. So vielen Smartphone-Besitzern vor allem in Afrika und Asien hat eine Initiative mit dem vertrauenerweckenden Namen "Internet.org" bislang gratis Zugang zum Internet verschafft – oder genauer: zu einer sehr, sehr eingeschränkten Version des Internets. Die auch Bildungsangebote und Jobbörsen, Wikipedia und Wettervorhersagen umfasst, vor allem aber: Facebook.

Facebook werkelt an eigenen Suchmaschinen

Der Konzern stellt die Infrastruktur für den Web-Zugang und sammelt im Gegenzug nicht nur die Daten der Nutzer, sondern kontrolliert auch die Inhalte, die sie zu sehen bekommen. In elf Ländern ist "Internet.org" bereits verfügbar, mit rund einer Milliarde potenzieller Kunden rechnet Facebook mittelfristig. Langfristig soll die Facebook-Nutzerschaft mit der Weltbevölkerung identisch sein. Kein Konzern war jemals so vermessen, das als Ziel auszugeben. Facebook macht es nicht darunter – und keine Kartellbehörde kann es stoppen.

Google ist im Angebot nicht enthalten – und bald ganz überflüssig, geht es nach Zuckerberg: Seine Leute entwickeln immer bessere eigene Suchmaschinen für Facebook ("Graph Search") und das Web ("Add a Link"). Google steht unter Druck und muss bald kontern.

Bei Facebooks "Internet.org" arbeiten derweil ehemalige Nasa-Koryphäen an Satelliten und solargetriebenen Riesendrohnen. 65 Organisationen aus 31 Ländern kritisieren das Projekt scharf. Sie sehen die Netzneutralität in Gefahr, die Gleichbehandlung aller Datenströme im Netz, ein Grundprinzip des World Wide Web. "Internet.org" bedrohe dies sowie Informationsfreiheit, Sicherheit und Privatsphäre, heißt es in einem offenen Brief des Bündnisses. Veröffentlicht wurde er bei Facebook. Natürlich. Anderswo gibt es ja kaum noch Publikum.

Wir könnten es auch lassen – theoretisch

Facebook zu nutzen kostet ja auch kein Geld. Bloß Zeit. Und die Offenlegung des Wertvollsten, das man hat: Beziehungen und Bewegungsprofile, Vorlieben und Abneigungen, Geheimnisse und Gefühle dienen als Rohstoffe, die der Facebook-Algorithmus gnadenlos verwertet. Für ewig gespeichert und in Beziehung gesetzt mit jeder vorherigen Schwärmerei, jeder Lästerei, jedem Geständnis. Eben jedem Wort, das man je über Facebook oder WhatsApp geschrieben hat.

Wenn Wissen tatsächlich identisch wird mit Macht, ist die Datenkrake Facebook auf dem Weg zur Allmacht.

Schleichend, aber unaufhaltsam nimmt es nicht bloß Einfluss darauf, mit wem wir kommunizieren und was wir zu sehen bekommen, lesen, kaufen. Sondern über die Zusammenstellung unserer Timeline auch direkt darauf, was wir fühlen. Doch Moral, Empathie, Zurückhaltung sind keine ökonomischen Kategorien, Appelle zum Selbstschutz nicht eingepreist. Kein Versuch ist Facebook wirklich vorzuwerfen – und jedes Gelingen fällt auf uns zurück: Was wir bei Facebook tun, tun wir freiwillig. Wir könnten es auch lassen. Machbar ist es offensichtlich von Tag zu Tag weniger, aber möglich wäre es.

Von Zuckerbergen in unserem Essen und Trinken halten wir uns längst fern.

(tojo)
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