Isringhaus' Top 100 Platz 1: "Die Sopranos"

Düsseldorf · Mit der US-Serie veränderte sich das Geschichtenerzählen im Fernsehen. Erstmals begeisterten sich Zuschauer für das Leben eines nicht gerade gutartigen Helden. Bis heute zählen die "Sopranos" zum Besten, was je im TV zu sehen war.

"Sopranos"-Star James Gandolfini gestorben
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Drei Leitsätze gleich vorweg: Mit den "Sopranos" fing alles an. An den "Sopranos" kommt niemand vorbei. "Die Sopranos" ist die beste Serie aller Zeiten. Damit ist alles Wesentliche gesagt. Eigentlich.

Also nochmal in voller Länge. Bevor Tony Soprano 1999 zum ersten Mal beim US-Bezahlsender HBO seinen Mafiageschäften nachging, war ein TV-Held seiner Bauart - soziopathisch, machtversessen, egoman, ein Sexist, Betrüger und Mörder - undenkbar. Wenn eine Hauptfigur charakterliche Defizite aufwies, durchlief sie einen Läuterungsprozess; in der Regel aber zeichneten sich die zentralen Protagonisten dadurch aus, dass sie gute Menschen waren. Tony Soprano war sicher vieles, wahrscheinlich sogar einer der komplexesten TV-Charaktere überhaupt, ein guter Mensch aber, das war er nicht.

So darf man wohl sagen, dass die "Sopranos" das Fernsehen revolutionierten, den Boden bereiteten für viele ähnlich düstere Serien. Denn nicht nur blieb Mafiaboss Tony von Anfang bis Ende bösartig, die meisten anderen Charaktere waren es auch, zumindest aber reichlich verkorkst. Der Kunstgriff von Serienerfinder David Chase bestand darin, gerade seine Hauptfigur nicht nur als moralisch verkommen zu zeichnen, sondern den Zuschauer sozusagen auf seine Seite zu ziehen - indem er Tony auch als schwachen, verletzlichen Menschen zeigte, der durchaus sympathische, liebenswerte Züge besitzt. Panikattacken treiben ihn von der ersten Folge an in die Praxis der Psychoanalytikerin Jennifer Melfi, die trotz Tonys Vorbehalten gegenüber Frauen und Therapeuten akribisch (und über alle sechs Staffeln hinweg) seine Kindheitstraumata freilegt.

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Foto: dpa, Frank Ockenfels, Amc

Vor allem anderen geht es bei den "Sopranos" um die Familie - um die eigene daheim, um die, aus der man stammt, und die, mit der man seinen Lebensunterhalt bestreitet, die aber nicht auf Blutsverwandtschaft beruht. Als stabil erweist sich aber keine von ihnen, alle Bindungen sind brüchig, weil sie nicht auf Liebe und Vertrauen, sondern auf Angst, Pragmatismus und materieller Gier basieren. Chase platziert diese Familie in die gesichtslose Vorstadt (in diesem Fall von New Jersey), in der auch Millionen andere Amerikaner leben, und schafft so eine breite Projektionsfläche. Weit mehr als ein schnödes Mafia-Drama sind die "Sopranos" denn auch eine Demontage Amerikas, eine bittere, zynische Analyse einer rein materialistisch ausgerichteten Gesellschaft, deren hehre Werte nur auf dem Papier existieren.

In ihrer Detailverliebtheit und Komplexität geht die Serie damit weit über die großen Leinwand-Mafia-Epen wie "Goodfellas" hinaus. Auch weil sie den Helden durch die Analyse-Sitzungen so differenziert anlegt, ihn vollkommen entblößt als verlogenen, feigen Heuchler, der seine soziale Inkompetenz durch brutales Machtverhalten kompensiert. Der bis dahin unbekannte James Gandolfini spielt diesen Tony Soprano in allen seinen Facetten großartig; und so wie seine Figur sich über die Jahre behauptet, immer mehr Terrain erschließt, immer kompromissloser wird, so legte Gandolfini/Soprano an Gewicht zu. Überragend ist aber auch das Ensemble: mit Edie Falco als Tonys Ehefrau Carmela, Bruce Spring-steens Gitarrist Steven van Zandt als Tonys Consigliere und Michael Imperioli als Cousin Christopher, um nur einige zu nennen.

Das Wagnis von HBO, solch eine Serie zu starten und mit Chase noch ein unbeschriebenes Blatt ans Ruder zu lassen, hat sich ausgezahlt: Manche Folgen, etwa "Verschollen im Schnee" (Regie: Steve Buscemi), besitzen Spielfilmqualitäten und könnten, wären sie 30 Minuten länger, im Kino laufen. Für viele Kritiker gehören etliche Episoden sogar zum Besten, was ein Fernsehsender je produziert hat.

Dazu zählt auch das Ende. Gute Enden schaffen es, einen Film zu überhöhen oder die Dinge in einem neuen Licht dastehen zu lassen, schlechte Enden hinterlassen ein schales Gefühl der Enttäuschung. Ohne es hier für diejenigen, die die Sopranos nicht kennen, verraten zu wollen: In der letzten Szene gelingt es Chase, alles, was die Serie ausmacht, auf den Punkt zu bringen und zugleich alles offen zu lassen. Es ist ein Schlusspunkt, der lange nachhallt, der viel diskutiert wurde und über den Chase nur sagte: "Für den, der es sehen will, ist alles da."

(RP)
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