TV-Talk mit Anne Will Erdogans Spionage-Aktion "eine Provokation"

Düsseldorf · Der jüngste Spionageverdacht gegen die Türkei ist für Anne Will Anlass, erneut über Erdogan zu diskutieren. Die Runde hält die Provokation für gefährlich und diskutiert Konsequenzen für die doppelte Staatsbürgerschaft.

  • Boris Pistorius, Niedersächsischer Minister für Inneres und Sport (SPD)
  • Serdar Somuncu, Kabarettist und Autor
  • Paul Ziemiak, Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands (CDU)
  • Seyran Ateş, Rechtsanwältin und Autorin
  • Rahmi Turan, Korrespondent des türkischen TV-Senders "A HABER"

Darum ging's

"Begreift Erdogan Deutschland mittlerweile als Teil der Türkei?", fragt Anne Will und spielt auf die jüngsten Bespitzelungsvorwürfe an. Dem türkischen Geheimdienst MIT wird vorgeworfen, angebliche Erdogan-Kritiker der Türkei in Deutschland ausspioniert zu haben. Anne will will mit ihren Gästen diskutieren, wie gefährlich die Aktionen des türkischen Staatschefs mittlerweile für den inneren Frieden Deutschlands sind und darüber, welche Rolle die doppelte Staatsbürgerschaft für das deutsch-türkische Verhältnis spielt.

Darum ging's wirklich

Die Runde bespricht in der Tat die Spionagevorwürfe und streitet über die Rolle der Gülen-Bewegung. Lange debattieren die Gäste, ob die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft ein Weg sein könne, die Integration zu verbessern und Erdogans Einfluss in Deutschland einzudämmen.

Frontverlauf

Auf jener Liste der "Staatsfeinde" des türkischen Geheimdiensts MIT stehen offenbar Hunderte, darunter Vereine, Imame, Journalisten und Politiker, wie die SPD-Politikerin Michelle Müntefering. SPD-Mann Boris Pistorius hatte Menschen, die auf der Liste standen, persönlich gewarnt. Er verteidigte diese Handlung, deutet aber Erdogans Aktion "vor allem eine Provokation", deren Ziel jedoch unklar bleibe.

Die Gäste sind sich weitgehend einig, dass derlei Spionage inakzeptabel ist. Dass Michelle Müntefering auf dieser Liste stehe, hält Paul Ziemiak für absurd. Man müsse eine klare Sprache sprechen und dafür sorgen, dass solche Verschwörungstheorien nicht weiter durchs Land zögen.

"Erdogan geht sehr weit"

Kabarettist Serdar Somuncu erinnert daran, dass auch andere Länder in Deutschland spitzeln und umgekehrt, dies in Fällen von Terrorverdächtigen auch teils gerechtfertigt sei. "Erdogan geht hier jedoch sehr weit." Allein Journalist Turan verteidigt die Abhöraktion des Geheimdienstes. Er bezeichnete die Gülen-Bewegung als "bewaffnete terroristische Organisation", die den Putschversuch im Sommer 2016 angezettelt habe.

Anne Wills Kommentar, deutsche Behörden hätten nicht als erwiesen angesehen, dass die Gruppe hinter dem Putsch stehe, quittiert der türkischstämmige Rahmi Turan mit den Worten: "Wenn der BND-Chef behauptet, die Gülen-Bewegung steckt nicht hinter dem Putsch, dann ist er entweder falsch im Amt oder er lügt."

Gefahr stärkerer Spaltung der Türken

Mit dieser Ansicht bleibt er in der Runde jedoch allein. Die anderen Gäste halten einen Zusammenhang zwischen dem Putschversuch und Gülen-Bewegung für abwegig. Somuncu sagt, dass es dafür keinerlei greifbare Anhaltspunkte gegeben habe. Die Spionage-Aktion sieht er vor allem als Aufwiegelung, der eine noch stärkere Spaltung der in Deutschland lebenden Türken folgen werde. "Erdogan ist gewiefter Taktiker", so der Kabarettist. Die größte Gefahr an Erdogan sei, dass er die eigenen Landsleute spalte, um seine eigenen Ziele zu erreichen.

Die aufgeheizte Stimmung zwischen Erdogan-Anhängern und "gemäßigten Türken, die in Frieden in Deutschland leben wollen", hält auch Pistorius für gefährlich: "Ich kann nicht vorhersagen, wie lange das noch gut geht, wenn Erdogan weiter so viel Öl ins Feuer gießt." Journalist Turan hält das für übertrieben: Viele Türken redeten miteinander und seien vernünftig genug.

Beitritt als Traum und Lüge

Kurz diskutiert die Runde, die schwindenden Chancen der Türkei auf einen Beitritt zur EU. Seyran Ates nennt es "den größten Fehler", der Türkei je einen Beitritt versprochen zu haben. Sie lobt Angela Merkel als einzige, die gesagt habe: "Wir wissen, wir nehmen euch nie auf."

Statt nicht ernst gemeinter Versprechungen, so Ates, hätte man an einer anderen Art Partnerschaft arbeiten können. "Aber man hätte das nie mit dem Traum oder der Vision eines EU-Beitritts verbinden dürfen, das war eine Lüge."

Staatsangehörigkeit nicht von Stimmung abhängig machen

Heftig diskutieren die Gäste, welche Rolle die doppelte Staatsbürgerschaft für die Integration türkischstämmiger Einwohner spielt. Serdar Somuncu hält den Doppelpass im Nachhinein für einen Fehler, der die Spaltung noch fördere. Er ist sich mit Zimiak einig, die doppelte Staatsbürgerschaft sei auf Dauer nicht haltbar, irgendwann müsse man sich eben entscheiden. Auch Journalist Turun findet das richtig. Er selbst sei auf dem Papier wie vom Gefühl her Deutscher: "Meine Kanzlerin heißt Merkel."

Boris Pistorius hält es für nicht bewiesen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft trennend wirke. Er könne keinen Zusammenhang zwischen mangelnder Integration und dem Doppelpass sehen, sagte er. "Ich kann doch Staatsangehörigkeit nicht von jeweiligen Stimmungen abhängig machen", so der niedersächsische Politiker.

(juju)
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