TV-Talk "Anne Will" zu Ungarn "Seriöse Politik sieht anders aus"

Berlin · Bei Anne Will ging es am Sonntag um die gescheiterte Volksabstimmung zur EU-Flüchtlingspolitik in Ungarn. Und um Islamfeindlichkeit – in Ungarn und dem Rest von Europa. Neue Argumente gab es nicht. Dafür zeigte die Sendung einmal mehr, wie bröckelig das Konstrukt Europa geworden ist.

Bei Anne Will ging es am Sonntag um die gescheiterte Volksabstimmung zur EU-Flüchtlingspolitik in Ungarn. Und um Islamfeindlichkeit — in Ungarn und dem Rest von Europa. Neue Argumente gab es nicht. Dafür zeigte die Sendung einmal mehr, wie bröckelig das Konstrukt Europa geworden ist.

Darum ging's: "Ungarn will keine Muslime - Wird Islamfeindlichkeit in Europa salonfähig?" lautete der Titel der Sendung von Anne Will am Sonntagabend nach dem gescheiterten Referendum zur EU-Flüchtlingspolitik in Ungarn. Die Menschen dort waren aufgerufen worden, darüber abzustimmen, ob sie für oder gegen eine Verteilung der Flüchtlinge in Europa nach einer von der EU festgelegten Quote sind. Zwar stimmten fast 100 Prozent für ein "Nein", weil sich jedoch nur 43 Prozent der Bevölkerung beteiligte, scheiterte die umstrittene Volksabstimmung von Ministerpräsident Viktor Orbán, der in den vergangenen Wochen immer wieder mit islamfeindlichen Aussagen polarisiert hatte.

Darum ging's wirklich: Ein wenig ging es darum, Orbán und seine Politik bloßzustellen. Das gelang auch ganz gut, hatte doch der Verteidiger Orbáns, sein Botschafter in Deutschland Péter Györkös, lediglich einen Fan im Publikum, der auffällig laut als Einziger bei seinen Aussagen klatschte. Zwischen Anschuldigungen um gescheiterte europäische Flüchtlingspolitik und Rechtfertigungen aller Podiumsgäste zur eigenen Toleranz gegenüber dem Islam ging es aber implizit auch immer um die Frage, ob Europa noch funktioniert.

Die Gäste

  • Péter Györkös, Botschafter von Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland
  • Sebastian Kurz (ÖVP), Österreichischer Außen- und Integrationsminister
  • Lamya Kaddor, Islamische Religionslehrerin aus Dinslaken, die sich wegen Morddrohungen beurlauben lassen musste
  • Cem Özdemir, Parteichef der Grünen
  • Cathrin Kahlweit, Korrespondentin der "Süddeutschen Zeitung" in Wien

Der Frontverlauf: Zu Anfang beschäftigte sich die Runde noch voll und ganz mit dem gescheiterten Referendum zur EU-Flüchtlingspolitik in Ungarn. Dabei stellte Cathrin Kahlweit zunächst fest, dass dieses lediglich aufgrund der Wahlbeteiligung der Bürger gescheitert sei: Schließlich hätten sich von jenen, die abgestimmt hätten, fast 100 Prozent für ein "Nein" zu einer Quotenregelung zur Flüchtlingsverteilung auf die EU-Länder ausgesprochen. Das bestärkte Péter Györkös in seiner Forderung, Ungarn nehme zwar gerne Flüchtlinge etwa aus Syrien auf, allerdings freiwillig und nicht auf Basis einer Quote. Klare Worte fand daraufhin Cem Özdemir: Ungarn habe über eine Quotenregelung abgestimmt, die es so nicht gebe, die die EU nicht beschlossen habe. Das Referendum sei "bizarr". "Der Eindruck einer Fremdbestimmung Ungarns innerhalb der europäischen Union ist absurd. Orbán wollte sich nur mal wieder als großer Kämpfer darstellen. Seriöse Politik sieht anders aus", schloss er.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz versuchte es daraufhin mit dem Mittelweg: Viele Bürger in Europa hätten derzeit das Gefühl, in der Flüchtlingspolitik von "einigen mitteleuropäischen Staaten" fremdbestimmt zu werden. Außerdem warb er dafür, in den Herkunftsländern der Flüchtlinge bessere humanitäre und wirtschaftliche Arbeit zu betreiben.

Cathrin Kahlweit brachte die Diskussion schließlich wieder zurück auf Ungarn: Das Land habe in den vergangenen Wochen eine Kampagne gegen das Fremde geführt. Daraufhin versuchte Anne Will, das Gespräch auf die Fragestellung des Abends zu lenken: Wird Islamfeindlichkeit salonfähig und warum ist Ungarn islamfeindlich? Trotz mehrerer eingespielter deutlich islamfeindlicher Zitate von Viktor Orbán bekam Will von dessen Botschafter keine zufriedenstellende Antwort auf ihre Fragen. Stattdessen wich dieser immer wieder aus.

Ein Beispiel: "Gehört der Islam zu Ungarn?", wollte Will wissen. Györkös' Antwort: "Ich verfolge diese Debatte in Deutschland und in Frankreich und schreibe darüber viele Berichte, aber ich möchte mich nicht in diese innerdeutsche Diskussion einmischen." Will: "Aber ich habe ja auch gefragt, ob der Islam zu Ungarn gehört und nicht, ob er zu Deutschland gehört." Györkös: "Diese Frage ist für uns nicht von Relevanz, in unserem Land leben 10.000 Muslime in geregelten Verhältnissen. Dieses Problem existiert in Ungarn nicht." Und dass Ungarn auch generell kein Problem mit Muslimen habe, machte der Botschafter daran fest, dass immerhin 2000 muslimische Studenten in dem Land Stipendien vom Staat erhielten. Auf mehr Fragen ließ sich Györkös dann schließlich nicht mehr ein.

Daraufhin wurde noch über Lamya Kaddor gesprochen, die sich vergangene Woche beurlauben ließ, weil sie als Islamwissenschaftlerin Morddrohungen erhalten hatte. Dass so etwas in keiner Weise akzeptabel ist, darüber war man sich in der Runde allerdings schnell einig.

Kritik gab es dann noch für Sebastian Kurz und das Islamgesetz in Österreich sowie die Pläne, Muslimen in dem Land die Vollverschleierung zu verbieten. Während Will vor allem über dieses Verbot sprechen wollte, verteidigte Kurz die verschiedenen Bestandteile seines Gesetzes, wie dass es Muslimen in Österreich seither erlaubt ist, eigene Friedhöfe einzurichten. Wesentlich neue Argumente gab es nicht.

Schließlich sprach sich Cem Özdemir in fast jedem Wortbeitrag für ein besseres, gelebtes Miteinander in Europa aus. Ob das vor allem Péter Györkös erreicht hat, bleibt fraglich.

Der schönste (und leider auch idealistischste) Satz des Abends: "In Europa werden die Menschen nicht danach beurteilt, wo sie herkommen, sondern danach, wo sie hinwollen." — Cem Özdemir.

Das wahrste Wort des Abends: Anne Will: "Ist Ungarn fremdenfeindlich?" — Cathrin Kahlweit: "Ja."

Fazit Auch wenn der Abend argumentativ nichts Neues hervorgebracht hat, so hat er doch einmal mehr gezeigt: Europa ist gespalten. Daran wird auch eine Veränderung der Flüchtlingspolitik nichts mehr ändern. Bleibt offen, ob Europa es schafft, sich am eigenen Schopf aus der Misere herauszuziehen.

(lai)
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