TV-Nachlese "Maischberger" "Das türkische Volk erwartet Hilfe und Solidarität"

Düsseldorf · EU-Beitrittsverhandlungen, Nazi-Vergleiche und die doppelte Staatsbürgerschaft - kaum ein kontroverses Thema in der Debatte über die Türkei wurde bei Sandra Maischberger ausgelassen. Ein Erdogan-Fan irritierte die Runde immer wieder mit seinen Aussagen.

Darum ging's "Erdogan - Deutschland: Kann die Eskalation noch gestoppt werden?" - zu diesem Thema diskutierten die Gäste am Mittwochabend bei Sandra Maischberger. Die jüngsten Verhaftungen zweier Deutscher in der Türkei haben zu weiteren Irritationen in den deutsch-türkischen Beziehungen geführt. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz forderte im TV-Duell mit der Kanzlerin den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, außerdem wird eine offizielle Reisewarnung für die Türkei diskutiert. Erdogan hatte sich seinerseits in den deutschen Wahlkampf eingemischt und deutsch-türkischen Wähler aufgefordert, CDU, SPD und Grünen die Stimme zu verweigern.

Darum ging's wirklich Die Sendung packte alle Deutschland-Türkei-Themen auf den Tisch, die im vergangenen Jahr öffentlich diskutiert wurden: Die Säuberungsaktionen nach dem Putschversuch im Juli 2016, die Menschenrechtssituation dort, die EU-Beitrittsverhandlungen, die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft. Die Diskussion begann mit der Situation der inhaftierten Journalisten in der Türkei und endete bei der deutschen Leitkultur - ein Exkurs, der zum Ende hin ausuferte. Vor allem der Erdogan-Befürworter Tugrul Selmanoglu zeigte sich als konfrontativer, aber auch ruhig argumentierender Gesprächspartner. Zwischendurch wurde immer mal wieder durcheinander geredet, aber der Moderatorin gelang es, ihre Gäste einzuhegen und immer wieder zu ihren Fragen zurückzuführen. Großes Plus für die Moderation bei diesem kontroversen Thema.

Die Gäste

  • Aydan Özoguz (SPD), Integrationsbeauftragte des Bundes
  • Markus Söder (CSU), bayerischer Finanzminister
  • Doris Akrap, Journalistin
  • Tugrul Selmanoglu, AKP-Mitglied und Erdogan-Unterstützer
  • Günter Seufert, Türkei-Experte
  • Dogan Akhanli, Schriftsteller (aus Spanien zugeschaltet)

Der Frontverlauf

Sandra Maischberger deckte mit ihrer Sendung eine Spannbreite an Themen ab, für die man normalerweise jedem einzelnen eine Talkshow widmen könnte. Aber der Bogen gelang ausgesprochen flüssig. Dass man in einem Atemzug mit den krisenbehafteten deutsch-türkischen Beziehungen auch über die deutsche Leitkultur spricht, bestätigte eine These des Türkei-Experten Günter Seufert, die dieser ganz zu Beginn der Sendung aufgestellt hatte.

Seufert hatte versucht zu erklären, warum das Thema "Türkei" und "Erdogan" die deutsche Öffentlichkeit dermaßen reizt. Zwei Thesen stellte er dazu auf. Zum einen sagte er, dass das deutsche und das türkische Demokratieverständnis vollkommen unterschiedlich seien. In der Türkei gelte das Recht der Mehrheit uneingeschränkt und diene als Legitimation für den Präsidenten, seine Politik durchzusetzen. Zum anderen sagte Seufert, dass die türkische Migrationsgeschichte die Deutschen gezwungen habe, über ihre nationale Identität nachzudenken - und sich etwa über Streitpunkte wie den Umgang mit dem Islam, traditionellen Geschlechterrollen und kulturellen Vorprägungen zu verständigen. Nichts anderes passierte am Ende der Sendung, als der bayerische Innenminister Markus Söder (CSU) eine Debatte über die deutsche Leitkultur anführte.

Zuvor war es um alle anderen strittigen Themen der deutsch-türkischen Beziehungen gegangen. Die Talkrunde brachte im Wesentlichen keine neuen Erkenntnisse über die EU-Beitrittsverhandlungen, die Frage von wirtschaftlichen Sanktionen gegen die Türkei oder die innenpolitischen Diskussionen über den Umgang der deutschen Regierung mit Erdogan. Die Diskussion führte aber eines deutlich vor Augen: das derzeitige Dilemma in den Beziehungen zwischen Deutschland, Teilen der EU und der Türkei - und das lag vor allem an dem deutsch-türkischen Unternehmer Tugrul Selmanoglu, der in der Sendung vor allem die Perspektive der Erdogan-Befürworter in der Türkei vertrat und ruhig und sachlich Argumente vortrug, die für deutsche Ohren ungewöhnlich und fragwürdig klangen.

So erklärte Selmanoglu mehrfach das Dilemma der deutsch-türkischen Beziehungen aus türkischer Perspektive. "Das türkische Volk und die türkische Regierung erwartet auch Partnerschaft von der EU, Hilfe und Solidarität" - sowie auch die Türkei Solidarität nach den Anschlägen auf die "Charlie Hebdo"-Redaktion gezeigt habe. "Stattdessen streitet man sich hierzulande darüber, ob man die Türkei zuerst isoliert, uns erst den Geldhahn zudreht oder die EU-Beitrittsverhandlungen stoppt."

Söder hatte sich vorher klar zu einem Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bekannt. "Wenn Erdogan über die Todesstrafe redet, ist das nicht mehr der Wertekanon, der die Grundlage für die europäische Idee ist, und allein deswegen machen diese Beitrittsgespräche keinen Sinn." Die taz-Journalistin Doris Akrap sprach sich für Wirtschaftssanktionen aus. Bevor man die EU-Beitrittsverhandlungen beende und damit das gesamte türkische Volk bestrafe, müsse man Erdogan mit der Beschränkung der wirtschaftlichen Beziehungen treffen.

Selmanoglu stellte die Frage, was Erdogan den Deutschen eigentlich getan habe. Akrap antwortete: "Es geht um Menschenrechte. Das scheint ihnen nicht klar zu sein." Der Erdogan-Unterstützer sagte darauf: "Ich bin mir sich er, dass in der Türkei die Menschenrechte eingehalten werden. Aber wir werden angegriffen. Außerordentliche Zeiten erfordern außerordentliche Maßnahmen. Dafür erwartet die Türkei Verständnis." Mit solchen Aussagen war Selmanoglu voll auf AKP-Linie.

Er bekannte sich dazu, Erdogans Boykott-Aufruf gegen CDU, SPD und Grüne bei der Bundestagswahl zu folgen. Auf die Rückfrage, ob er dann die AfD wähle, antwortete er: "Eher weniger. Aber es gibt diverse Wege, trotzdem abzustimmen." Er verwies auf die "Allianz Deutscher Demokraten" oder die BIG-Partei, die allerdings nicht zur Bundestagswahl antritt, aber in NRW bei der Landtagswahl auf dem Wahlzettel gestanden hatte.

Die Runde nahm ihn als Gesprächspartner zunächst sehr ernst - bis ausgerechnet die Bundesbeauftragte für Integration Aydan Özoguz Selmanoglus deutsch-türkische Identität in Zweifel zog. Mit ihrer Frage, warum Selmanoglu sich von Erdogan besser vertreten fühle als von der deutschen Politik, gab sie einem verbreiteten Reflex der öffentlichen Diskussion über die Türkei nach. Darin schwang der latente Vorwurf mit, sich stärker mit Erdogan zu identifizieren, als mit der Politik im deutschen Heimatland. Selmanoglu kam aber kaum dazu, diesen Widerspruch aufzulösen. Ihm war - anscheinend im Unterschied zu den übrigen Gästen - sehr wohl klar, dass er vor allem eingeladen worden war, um die türkische Perspektive zu vertreten.

(heif)
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