TV-Nachlese zu Günther Jauch Behinderte Kinder aufs Gymnasium?

Düsseldorf · Behinderte in unsere Mitte einbinden statt ausschließen - das klingt gut und richtig. In der Realität haben viele Eltern und Lehrer Angst. "Nur die Kinder haben es kapiert", sagt eine Mutter. Die schonungslose Diskussion bei Günther Jauch über Inklusion ging unter die Haut.

Günther Jauch Thema Inklusion: Behinderte Kinder aufs Gymnasium?
Foto: Screenshot ARD

Günther Jauch kümmerte sich am Sonntag um ein oft tabuisiertes Thema. In den wohlfeilen Reden der Politik ist Inklusion, die Teilhabe von sowohl körperlich als auch geistig behinderten Kindern in der Regelschule, ein unstrittiges Ziel. Jeder unterschreibt das. Auch, weil er sich nicht vorwerfen lassen will, er diskriminiere Behinderte. Kritik ist daher immer schwierig. Sie rührt an Tabus.

Jauch aber fragte: Wo stößt das Konzept, dem sich Deutschland in Anlehnung an eine UN-Konvention seit 2009 verschrieben hat, an seine Grenzen? Gekommen sind Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz (SPD) und selbst an Multipler Sklerose erkrankt, Josef Kraus, Vorsitzender des Lehrerverbandes, Kirsten Erhardt, Mutter eines Jungen mit Down-Syndrom, Jan-Martin Klinge, Lehrer in einer integrierten Klasse und Carina Kühne.

Mit Down-Syndrom Klassenbeste

Zwei konkrete Beispiele hat Jauch für diesen Abend mitgebracht: Da ist zum einen diese 29-Jährige Carina Kühne, eine beeindruckende Frau mit Down-Syndrom, die trotz ihres Handicaps einen Hauptschulabschluss von 2,3 erzielt hat, Klassenbeste in Englisch war, Klavier spielt, einen eigenen Blog betreibt.

Zwei Dinge zeigt ihr Besuch von Beginn an eindrucksvoll: Erstens: Auch Behinderte können Eindrucksvolles leisten. Und zweitens: Das worunter sie am meisten leiden, ist nicht die Behinderung, sondern, dass sie oft nicht ernst genommen werden. Carina Kühne ist ein personifiziertes Plädoyer dafür, mit den Anstrengungen für eine gesellschaftlich umfassende Inklusion niemals locker zu lassen.

Henri soll aufs Gymnasium

Der zweite bei Jauch diskutierte Fall bricht hingegen das komplette Konfliktpotential auf. Es geht um den elfjährigen Henri Ehrhardt aus Baden-Württemberg. Auch er hat das Down-Syndrom. Aber wie seine Mutter es schildert, ist ein Hauptschulabschluss für ihn unerreichbar.

Dennoch kämpft Kirsten Ehrhardt mit aller Kraft dafür, dass Henri im Sommer nach dem Abschluss der Grundschule mit seinen Freunden zusammenbleiben und auf das Gymnasium wechseln kann. In der Grundschule wurde Henri bisher mit zwei körperlich behinderten Mädchen von einem Sonderpädagogen betreut. Dieser gibt Henri Aufgaben, die er lösen und an denen er wachsen kann.

Der nächste Schritt erweist sich für die Familie Erhardt aber als unüberwindbare Hürde. Das Gymnasium und auch die Realschule wollen Henri nicht aufnehmen. Die Lehrer, so heißt es, sehen sich dafür nicht vorbereitet. "Zwei Jahre lang haben die sich weggeduckt, in der Hoffnung, der Kelch werde so an ihnen vorübergehen. Jetzt werden sie dafür auch noch belohnt", schimpft Kirsten Ehrhardt.

Was ist die richtige Entscheidung?

Henris Mutter kämpft mit spürbarer Leidenschaft. Den Einwand, dass auch manche Eltern sich mit Henri schwer tun, weil sie befürchten, dass er das Niveau der Klasse nach unten drückt, lässt sie nicht gelten. Es dürfe doch nicht immer um Leistung gehen. Aus ihrer Sicht ist der Kontakt mit behinderten Menschen für jeden eine Bereicherung. Wer sich dieser Überzeugung verschließt, dem wirft sie einen "defizitären Blick" vor.

Manche empfinden ihren Einsatz für Henris Schullaufbahn möglicherweise als überzogen. Sie warnen davor, das Glück behinderter Kinder auf dem "Altar der Inklusion zu opfern". Regelschule, koste es was es wolle, das kann nicht die Lösung sein, da ist sich auch die Jauch-Runde einig. Im Zentrum müsse immer das Kindeswohl stehen, mahnt Josef Kraus vom Lehrerverband an.

Das aber ist immer individuell verschieden, bei behinderten genauso wie auch nicht-behinderten Kindern. Es zu bestimmen und die dafür richtigen Entscheidungen zu treffen, gehört zu den großen Herausforderungen des Elternseins. Wohl noch mehr bei behinderten Kindern, die mehr Fürsorge benötigen.

"Die Kinder haben es verstanden"

Für Henris Mutter ist die Sache klar: Für Henris Glück und Entwicklung ist das Beisammensein mit seinen Freunden aus der Grundschule elementar. "Die Kinder haben es verstanden", sagt sie. Alle seien — im Gegensatz zu den Erwachsenen - absolut großartig. "Eltern und Lehrer schauten hingegen ständig auf Leistung.

Dass das Gymnasium für Henris intellektuell unlösbare Anforderungen stellt, spielt aus ihrer Sicht keine Rolle, weil für ihren Jungen ja ein anderer, individueller Lehrplan entworfen wird. In Italien etwa, wo 99,9 Prozent der behinderten Kinder eine Regelschule besuchen, ist das längst Normalität. Deutschland steckt vergleichsweise in den Kinderschuhen. Hier beträgt die Quote gerade mal ein Viertel.

Aber die beiden Lehrer in der Runde zeigen sich zurückhaltend. "Was hat er davon, wenn er eine Bildungslaufbahn einschlägt, wo er eine Enttäuschung nach der anderen erlebt?", fragt Kraus. Und Jan-Martin Klinge, der an einer Gesamtschule eine Inklusionsklasse betreut, gibt zu Bedenken, dass die Kinder sich spätestens in der achten Klasse emotional "rasant auseinander entwickeln." Ob dann noch Freundschaften aus der Grundschule halten können, sei fraglich. Es klingt an: Inklusion auf der Regelschule kann auch überfordern.

Lehrer sieht sich als Anwalt aller Schüler

Als Kraus aber davor warnt, durch Inklusion andere Schüler in ihrer Leistungsfähigkeit zu hemmen, grätscht der Gesamtschullehrer lächelnd dazwischen. "Ich finde es ganz furchtbar, was Sie da sagen", hält er dem Kollegen entgegen. Inklusion darf aus seiner Sicht niemals in den Verdacht geraten, andere zu blockieren. Grundsätzlich seien alle Kinder "inkludierbar".

Er als Lehrer verstehe sich jedoch als Anwalt ALLER Schüler. Jeder solle nach seinen Möglichkeiten individuell so gut wie möglich gefördert werden. Mit welch personellem und finanziellem Aufwand das erst funktionieren kann, klingt nur am Rande an. Die von Jauch eingebrachte Summe von 660 Millionen Euro, zweifelt Josef Kraus massiv an.

Das zeigt, dass in der Debatte letztlich Prinzipien miteinander kollidieren, denen sich unsere Gesellschaft verschrieben hat: Auf der einen Seite das Bekenntnis zu Integration und sozialem Miteinander, auf der anderen Seite der Leistungsgedanke. Im Schulwesen prallen diese Werte immer wieder aufeinander, man erinnere sich nur an die Grabenkämpfe im Kampf um die Gesamtschule.

Letztlich, das stellt Malu Dreyer klar, gehe es bei Inklusion um Wahlfreiheit. Alle Kinder, die die Regelschule besuchen wollen, sollen dies auch tun können. Dass es sich dabei auch um einen personellen und finanziellen Kraftakt handelt, bezweifelt niemand. Von einem langwierigen Prozess, spricht die Ministerpräsidentin. Und davon, was möglich ist."

(pst)
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